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In vielen Pflegeheimen gelten nach wie vor die Corona-Regeln - obwohl die Bewohner geimpft sind.

© Getty Images/iStockphoto

„Der Lebensmut sinkt spürbar“: Wie ein Seniorenheim trotz Impfungen mit den Corona-Regeln kämpft

In Seniorenheimen wie dem St. Albertus in Berlin-Hohenschönhausen gelten unverändert die Corona-Regeln – obwohl fast alle Bewohner geimpft sind. Das hat Folgen.

Als in Capri die rote Sonne im Meer versinkt, stößt der alte Mann mit den schütteren, weißen Haaren auf die Lösung. Größter Singvogel in Deutschland? Na klar, der Kolkrabe. „Kolkrabe“ sagt er laut, während Rudi Schurickes Nachkriegs-Ohrwurm aus dem Radio tönt.

Sorgsam, tief über den Tisch gebeugt, füllt er einen weiteren Teil seines Kreuzworträtsels aus. Sein Körper steckt in einer Art Plastikumhang, eine FFP2-Maske bedeckt das halbe Gesicht, und gleich neben ihm sitzt seine Frau, den Blick abwechselnd zu ihrem Mann und dann wieder ins Nirgendwo gerichtet. Eine kleine Frau, die in ihrem Rollstuhl fast versinkt.

Die Frau ist Mitte 80, sie ist dement, aber sie spricht nach, was ihr Mann vorsagt. „Kolkrabe“, wiederholt sie mit dünner Stimme. Das Paar ist allein an diesem Freitag im Speisesaal des Caritas-Seniorenheims St. Albertus in Hohenschönhausen, der Mann muss auch bald wieder gehen, länger als eine Stunde darf er nicht bleiben.

Er ist zweimal geimpft, seine Frau auch, er hat gerade am Eingang des Heims einen Schnelltest gemacht: negativ. Spielt alles keine Rolle. Eine Stunde, nicht mehr. Die Plastikhülle trägt er zur zusätzlichen Sicherheit.

Die strengen Corona-Regeln gelten auch für Seniorenheime. Sie gelten, obwohl die Caritas, weitere Träger und Politiker protestieren, sie gelten, obwohl rund 90 Prozent aller Heimbewohner in Berlin zweimal geimpft sind, obwohl jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin jeden Tag getestet wird, obwohl viele Angehörige ebenfalls zweimal geimpft sind. Im St. Albertus sind von den 76 Bewohnern und Bewohnerinnen 97 Prozent geimpft.

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Und im St. Albertus kann man stellvertretende für andere Heime sehen, wie hoch der Preis für diese Regeln im Alltag ist. „Bei der Mehrheit der Bewohner und Bewohnerinnen ist spürbar, dass der Lebensmut sinkt“, sagt Alexander Blum. „Wir haben bei kognitiv eingeschränkten Menschen eine bemerkenswert negative Entwicklung ihrer Demenz festgestellt.“ Alexander Blum leitet das Seniorenheim, er sitzt in der kleinen Kapelle von St. Albertus, neben dem Altar, auf dem eine Kerze steht.

Der Verbot von Gesang trifft die Menschen hart

In diesem Raum haben sie früher bei der Messe leidenschaftlich gesungen. Aber Gesang ist schon lange untersagt. „Gerade dieses Verbot ist für die Menschen besonders schrecklich“, sagt Blum. Und irgendwann fällt der Satz: „Wir sind bereits über den Punkt hinaus, was man den Bewohnern und den Bewohnerinnen und ihren Angehörigen zumuten kann.“

Alexander Blum leitet das St. Albertus Seniorenheim in Hohenschönhausen.
Alexander Blum leitet das St. Albertus Seniorenheim in Hohenschönhausen.

© DAVIDS/Sven Darmer

Mindestens die Hälfte der Bewohner von St. Albertus ist dement. Diesen Menschen fehlen nun die vertrauten Gesichter, die Rituale, die Orientierungspunkte. Die Angehörigen dürfen nur dosiert und nach telefonischer Anmeldung kommen. Im Schnitt sind das zehn Besucher pro Tag, das ist abhängig von der Testkapazität und der aktuellen Personalstärke des Heims. Die Tests führt das Personal selbst durch.

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Blum hat einen Fall vor Augen, er gilt für ihn als extremes Beispiel für die Folgen der Regeln. Eine Frau, Mitte 80, war 2020 „noch leicht dement“. Sie sprach gerne mit dem Personal, und irgendwann sagte sie: „Ich verstehe nicht, warum ich nicht mehr zum Essen in den Speisesaal darf. Kinder, was ist hier los, das muss doch mal aufhören.“

Der Speisesaal wird erst Ende April geöffnet

Aber es hört nicht auf, der Speisesaal blieb zu, der psychische Verfall der Frau entwickelte eine enorme Dynamik. „Irgendwann“, sagt Blum, „hat sie gar nicht mehr gesprochen.“ Erst Ende April wird der Speisesaal wieder geöffnet, aber nur zum Mittagessen und für wenige Personen. Bis dahin muss in den Etagenküchen oder auf den Zimmern gegessen werden.

Die Menschen leben unter einem Dach, aber gefühlt vereinsamen sie. Keine gemeinsamen Feste, keine gemeinsamen Spiele, kein gemeinsames Essen, keine sportlichen Angebote. Die emotionalen Lücken füllen hochmotivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, mit Einzelbetreuung und Spaziergängen. Doch das ist Schadensbegrenzung, kein Ersatz für den Verlust des gewohnten Alltags.

Niemand wird gezwungen, eine Maske zu tragen

Aber es gibt im St. Albertus auch eine Grauzone, Fluchtbereiche, in denen der Pragmatismus mehr gilt als starre Regeln. Wer als Bewohner, als Bewohnerin, keine Maske tragen will, sobald er oder sie das eigene Zimmer verlassen hat, darf das tun. Bei Dementen wäre alles andere sowieso unsinnig. „Die reißen sich die Maske einfach vom Gesicht, sie setzen sie auch nicht wieder auf, sie wissen gar nicht, weshalb sie das tun sollen“, sagt ein Pflegerin.

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Wer nicht dement ist, aber aus nachvollziehbaren Gründen genauso wenig weiß, warum er das tun soll, der wird in Ruhe gelassen. „Wir können ja niemanden zwingen“, sagt Heimleiter Blum. „Wir werden es auch nicht tun.“

Es ist der stille Respekt vor persönlichen Entscheidungen, zumal die Gefahr der Ansteckung bei den ganzen Hygienemaßnahmen im Haus ohnehin minimal ist. Die Betreffenden werden dokumentiert, mehr passiert nicht. Ohnehin wird jeder Bewohner routinemäßig einmal pro Monat getestet.

Nur die Hälfte des Personals ist geimpft

Beim Personal allerdings liegt die Impfquote aktuell nur bei rund 50 Prozent. Der Rest weigert sich bislang. „Die Unsicherheit wegen der Impfstoffe ist groß“, sagt Blum. Er bedauert die Quote, aber er kann sie nicht ändern. Eine Gefahrenquelle sieht er darin allerdings nicht. Jeder Mitarbeiter wird täglich getestet. Zudem trage das Personal ausnahmslos FFP2-Maske.

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Blum kommt bei den Regeln ein elementarer Aspekt zu kurz: „Die Menschen haben ja eine begrenzte Lebenszeit vor sich. Vielleicht ist es ja der letzte Geburtstag, der gefeiert wird, das letzte Weihnachten.“ Soll man ihnen da ohne erkennbare Not die Lebensfreude schmälern?

Vor kurzem sagte ihm die Tochter eines Bewohners: „Ich bin zweimal geimpft, mein Vater ist zweimal geimpft. Wir beide wissen doch, dass die Regeln Unsinn sind.“ Blum ließ den Satz damals unkommentiert. Aber in der Kapelle sagt er: „Natürlich hatte die Frau Recht.“ Ein paar Meter weiter, im Speisesaal, sagte der weißhaarige Mann, tief über sein Kreuzworträtsel gebeugt: „Rotkehlchen.“ Eine dünne Frauenstimme antwortet: „Rotkehlchen.“

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