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Berlin nach der Mauer: Eine ganze Generation in Freiheit - aber nicht ohne Grenzen

28 Jahre, 2 Monate und 26 Tage teilte die Mauer Berlin, nach ebenso langer Zeit hat sich die Stadt eine Zukunft erkämpft, die lange undenkbar war.

Für eine Stadt, deren Geschichte in Jahrhunderten zählt, sind knapp 57 Jahre eine kurze, unbedeutende Zeitspanne. Für die Berliner, die diese Zeit hier erlebt haben, sind 57 Jahre ein ziemlich großer Teil ihres Lebens. Sie haben in vielen Fällen ein ganzes Arbeitsleben hinter sich, haben Familien gegründet, Kinder und auch Enkelkinder aufwachsen sehen.

Und sie haben trotzdem nie vergessen, wie in jenen Tagen im August 1961 die schon zuvor bestehende Blockkonfrontation sich in einem Grenzwall zementierte. Zur geschichtlichen Erfahrung ihrer Generation gehört aber auch das unbeschreibliche Glücksgefühl, als im November 1989 die menschenverachtende Mauer fiel: Die Freiheit, erzwungen von jenen mutigen Bürgerrechtlern, die eine friedliche Revolution entfacht hatten – trotz aller Repression und Wahlbetrugs.

Im Schatten des Betonwalls

Auch das ist nun schon 10.316 Tage her, und damit so lange, wie zuvor die Mauer stand, die Familien zerrissen hatte und unendliches Leid über Menschen brachte und vielen Flüchtlingen den Tod. Im Schatten des Betonwalls mit dem immer weiter perfektionierten Grenzregime starben weit über hundert Menschen, die nichts weiter wollten, als in Freiheit zu leben.

Unvergessen sind die Schicksale, eingebrannt ins Gedächtnis der Stadt: Jugendliche, die beim Durchschwimmen des Grenzkanals erschossen wurden, die Rentnerin, die bei der Flucht aus ihrem Wohnhaus in den Tod stürzte, der junge Arbeiter Peter Fechter, der tödlich getroffen vor den Augen der Welt hilflos im Todesstreifen verblutete. Oder der letzte Grenztote, der aus seinem selbstgebastelten Heißluftballon in den Tod stürzte, als er schon über West-Berlin schwebte. Am früheren Grenzstreifen an der Bernauer Straße, wo ein Denkmal heute an alle Opfer erinnert, ist dieser Horror zu besichtigen. So weit weg, so nah noch in der Erinnerung.

„Selbstständige Einheit West-Berlin“

Nahezu unvorstellbar, dass es schon über 28 Jahre her ist, dass diese Diktatur zusammenbrach. Ist Berlin denn nicht immer noch dabei, diese Vergangenheit hinter sich zu lassen? So nah scheint für hier geborene Berliner deren Existenz, was ein Zeichen ist, wie tief im Unterbewussten diese brutale Trennlinie noch verankert ist – egal, ob die Menschen diese Zeit im Ost- oder Westteil erlebt und erlitten haben. Denn trotz aller Möglichkeiten der West-Berliner, zu reisen, wie es beliebte, war da immer die Mauer in den Köpfen.

Diese Insel-Erfahrung mit der Gewissheit, dass die Freiheit begrenzt war und an Mauern stieß, gehörte zum Lebensgefühl – selbst wenn man sich beim Segeln auf der Havel vergnügte, markierten Bojen und DDR-Patrouillenboot die Grenze. Eine einschneidende Lebenserfahrung, ein nachwirkendes Trauma. Das galt auf andere Weise auch für Ost-Berliner. Die hatten zwar das DDR-Hinterland, aber die weiße Fläche auf der Landkarte an der Stelle, wo die im DDR-Politjargon „Selbstständige Einheit West-Berlin“ lag, war für viele Menschen ein Phantomschmerz.

Geld zieht neue Grenzen

Was für ein Wunder der Wiederauferstehung einer erst im Krieg zerstörten und dann über Jahrzehnte geteilten Stadt zur europäischen Metropole! Doch eine Verwunderung ist uns das kaum noch wert, sondern längst selbstverständlich. Wo Ödnis war in der Mitte der Stadt, ist ein neues Zentrum gewachsen. Die dynamische Zuwanderung hat viele Bezirke radikal verändert und ihnen ein neues Gesicht gegeben. Es gehört zur bitteren Bilanz, dass es neue Grenzen gibt, gezogen vom Geld, und viele Mieter vertrieben wurden durch die rasende Verwertungslogik der Investoren. Mit diesen Menschen und den zugebauten Freiflächen schwand vielfach auch die Erinnerung.

Die brutalen Narben im Stadtgebiet sind so weit getilgt, dass selbst Berliner schon Mühe haben, sich an den früheren Grenzverlauf zu erinnern. Berlin-Besucher finden nur noch wenig vom Monument des Schreckens. Aber nach der Maueröffnung sollte dieser Schandwall möglichst schnell weg. Kein Berliner hätte es 1990 verstanden, wenn der Berliner Senat sich für einen weitgehenden Erhaltung der Mauer ausgesprochen hätte. Aus den Augen – doch im Sinn blieb dieser Schnitt durch eine Stadt trotzdem.

Größenwahn loderte auf

Vor allem musste doch erst wieder im wahrsten Sinne die Stadt zusammengebracht werden: Hier die „Hauptstadt der DDR“, dort das „Schaufenster des freien Westen“ mit ihren identischen Strukturen. Zwei Nahverkehrsbetriebe, Unis, Kliniken, Stromnetze und Behörden. Vor allem war es eine Herkulesaufgabe, die in beiden Stadthälften aufgeblähte Verwaltung zusammenzuführen, von den Polizisten bis zu den Lehrkräften.

Größenwahn und großspurige Überheblichkeit, die nach dem Mauerfall in der Stadt aufloderten, in einer Zeit, als alles möglich und machbar schien, sind rückblickend für manche Irrungen und falsche Entscheidungen verantwortlich. Aber es war auch eine Zeit, in der sich Menschen verwirklichen konnten, ob in leerstehenden Häusern oder illegalen Clubs. Diese Jahre der ungezügelten hektischen Kreativität hallen immer noch nach und haben zum weltweiten Ruf Berlins als hippe Metropole beigetragen.

Berlin war überfordert

Es war auch die wildwüchsige Zeit von Investoren und riskanten Bauprojekten, bei denen sich manches Unternehmen verhob. Auch die gewagten Prognosen, die Berlin ein explosives Bevölkerungswachstum und wirtschaftliche Blüte voraussagten, schürten die Glut des Neuanfangs. Ausdruck dieser Hybris war die ebenso überheblich wie dilettantisch organisierte Bewerbung um die Olympischen Spiele im Jahre 2000, obwohl Berlin schon mit der Modernisierung der städtische Infrastruktur überfordert war. Statt aufzublühen, aber blieben erst die prognostizierten Zuzügler und neuen Unternehmen aus, dann brachen in beiden Stadthälften die unrentablen Ost- und hochsubventionierten West-Betriebe zusammen – bis nahezu jeder fünfte erwerbsfähige Berliner ohne Job war.

Hinzu kam eine galoppierende Verschuldung. Dass Berlin in wenigen Jahren über 60 Milliarden Euro Schulden anhäufte, dazu trug auch ein absurd teures Finanzierungsmodell für den sozialen Wohnungsbau bei. Absurd, dass zehntausende Wohnungen im Ostteil abgerissen wurden, weil die Bevölkerung entgegen der Prognosen nicht wuchs; Wohnungen, die Berlin heute dringend bräuchte. Zum Absturz trug auch bei, dass von der Bundesregierung die üppigen Berlin-Subventionen zu schnell gestrichen wurden – ohne dass Berlin seine Ausgaben drosselte und Personal einsparte.

Enorm wichtig für das Zusammenwachsen der anfänglich emotional tief gespaltenen Stadthälften war zwar die Entscheidung des damaligen Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU), die Beschäftigten in der Ost-Berliner Verwaltung nach West-Tarif zu bezahlen. Dass diese Milliardenkosten den Schuldenberg vergrößerte, war die Kehrseite.

Ein zweites Leben nach dem Mauerfall

Die Milliardenverluste beim Zusammenbruch der vom CDU-geführten Senat großspurig aufgebauten Bankengesellschaft wegen windiger Geschäfte und dubioser politischer Gefälligkeiten zur Jahrtausendwende kamen hinzu. Es mag an diesem so mühseligen, deprimierend erfolglosen Jahrzehnt liegen, dass in Berlin nach nun 28 Jahren immer noch das Gefühl vorherrscht, man sei noch dabei, die Folgen der Teilung abzuarbeiten.

Mehr als 28 Jahre, das kommt einer Generation gleich. Es zeigt, wie mühselig dies Zusammenwachsen verlaufen ist. Kein Wunder. Den an der Spree geborenen Berlinern, die schon den Mauerbau erlebt haben, steckte ja schon ein Leben in den Knochen, und nach dem Mauerfall ist ein zweites Leben hinzu gewachsen. Die lange Teilung hat die beiden Stadthälften entfremdet und den Neustart erschwert. Da war das Misstrauen hunderttausender Ost-Berliner, die sich nach der kurzen Freude über die offene Mauer als die Verlierer der Weltgeschichte sahen – die mit der DDR auch durch die zusammenbrechende Industrie ihre Jobs und die soziale Sicherheit verloren.

Es zählt das Morgen

Und auch die West-Berliner, zuvor von der fernen Bundesregierung in Bonn finanziell bestens versorgt, standen plötzlich im kalten Wind einer neuen Zeit. Die rund um die Stadt gezogene Mauer, so schrecklich sie war, machte zugleich aus West-Berlin eine überschaubare, kuschelweiche und sichere Spielwiese. Auch da gingen mit dem Mauerfall scheinbar festgefügte Sicherheiten zu Bruch, wuchs die Arbeitslosigkeit.

Man kann sich kaum ausmalen, ob Berlin seine Nach-Mauer-Depression bewältigt hätte, wenn nicht mit dem Umzug des Bundestags und der Bundesregierung ein neues Gravitationszentrum in der nicht nur geografisch leeren Mitte der Hauptstadt entstanden wäre. Das neue Berlin, das nun auch wirtschaftlich immer mehr auf die Beine kommt, wäre auch ohne die Hunderttausenden Zuzügler nicht möglich gewesen. Fast jeder dritte Berliner kam erst nach dem Mauerfall in die Stadt. Sie erst, die anfänglich mit Sprachlosigkeit auf beiden Seiten der gefallenen Mauer empfangen wurden, haben die Bezirke komplett verändert und die unsichtbare Grenze zwischen den Stadthälften vergessen lassen.

Man mag beklagen, dass vielen der neuen Berliner die Mauer egal ist, sie den Mauerverlauf nicht kennen und auch nichts davon wissen möchten. Schließlich ist das nun auch schon genau 10.316 Tage her, mehr als 28 Jahre. Schon wieder eine ganze Generation. Gut so. Es zählt in Berlin nicht mehr das Gestern, sondern nur das Heute und Morgen, die Lust auf Neues, die Erfahrung einer vibrierenden Weltstadt. Wer hätte das 1961, vor zwei Leben, sich erträumen können?

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