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Jugendliche werden seit 10 Jahren in Berlin mit einer A

© Alix Faßmann

Hoffnung und Frust in Berlins Jugendberufsagentur: „Dann lege ich mich wieder ins Bett und zocke!“

Seit zehn Jahren ist die Jugendberufsagentur die wichtige Adresse für Berliner Jugendliche auf dem Weg in den Beruf. Das Prinzip – alle für die Vermittlung nötigen Stellen unter einem Dach – hat sich bewährt, anderes klemmt noch.

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Der Berliner Beatboxer „Chlorophil“ spuckt den Rythmus und lockere Reime, alles für die locker-coole Stimmung zum zehnjährigen Jubiläum der Jugendberufsagentur (JBA) in Berlin. Am Standort Lehrter Straße im Bezirk Mitte tippt Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) mit dem goldenen Schuh den Takt, Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) tanzt mit Ramona Schröder von der Regionaldirektion der Arbeitsagentur. Vorn: die zischenden Raps des Beateboxers mit Haarkranz. Hinten: zwei 19-Jährige aus dem Wedding – Yusef und Abudi – grinsen mit einem Blick, der „Cringe“ (Fremdscham) ausdrückt.

Berufsschulplatz ohne Betrieb

„Ich rappe auch privat, aber heute bin ich beruflich hier“, sagt Abudi. Die beiden jungen Männer aus Berlin-Wedding sind auf der Suche nach dem richtigen Ausbildungsplatz. Einen Berufsschulplatz für eine Ausbildung zum Automobilkaufmann hat Abudi schon, nur jetzt muss er auch dringend einen Betrieb finden, der ihn nimmt. Sonst muss er wieder von vorne anfangen. Sein Kumpel Yusef hat heute ein Bewerbungsgespräch für einen Ausbildungsplatz zum Automechatroniker. Das wollen gerade viele machen. Nervös ist er trotzdem nicht.

Yusef und Abudi aus Wedding wollen beide eine Ausbildung in der Autobranche finden.

© Alix Faßmann

Als die ersten vier Standorte der JBA im Oktober 2015 öffneten, war die Idee zumindest in Berlin neu (Hamburg war bereits Vorreiter): Junge Menschen sollten nicht länger zwischen Jobcenter, Arbeitsagentur, Jugendamt und Schule hin- und hergeschickt werden. Stattdessen bündelte Berlin erstmals alle Partner unter einem Dach – von der Berufsberatung über Jugendsozialarbeit bis zur Ausbildungssuche. Ziel: Keiner soll verloren gehen.

80
Prozent der Berliner Schulabgönger sind bei der Jugendberfsagentur registriert.

Heute, zehn Jahre später, arbeiten an den zwölf Standorten über 700 Fachkräfte – von Berufsberater:innen der Arbeitsagentur bis zu Jugendhilfemitarbeiter:innen. Rund 20.000 Berliner Schüler:innen verlassen jedes Jahr die 10. Klasse – und dank der JBA weiß die Stadt, wo sie stehen: Berlin ist bundesweit Spitzenreiter bei der Meldequote, über 80 Prozent der Jugendlichen sind bei der Agentur registriert.

Die Arbeitssenatorin Kiziltepe und Bildungssenatorin Günther-Wünsch schauen sich Ausbildungsberufe in der VR-Brille an.

© Alix Faßmann

Ein besonderer Erfolg: die aufsuchende Beratung. Sozialpädagogische Fachkräfte und freie Träger suchen Jugendliche dort auf, wo sie leben – in Parks, Jugendclubs oder Online-Chats. So versucht Berlin auch jene zu erreichen, die aus dem System gefallen sind.

Wir brauchen die Wirtschaft an unserer Seite.

Katharina Günther-Wünsch (CDU), Senatorin für Bildung, Jugend und Familie

„Gerade für junge Menschen ohne Anschluss oder mit Fluchterfahrung ist das entscheidend“, betont Senatorin Günther-Wünsch. 7800 Jugendliche gelten derzeit als unversorgt, stehen also ohne Ausbildungsplatz da – bei rund 4500 offenen Angeboten. „Dafür brauchen wir die Wirtschaft an unserer Seite“, sagt Günther-Wünsch.

Tischler wollen viele werden, aber wer kennt den Kunststofftischler?

Zwei Angebote hat Ingo Kraatz von der Firma Polywerk im Gepäck. Er steht mit seinem Mitarbeiter Hafiz Taibou an einem Tisch voller Kunststoffteile. Hafiz kam 2016 aus Benin in Westafrika nach Berlin, machte hier seine Ausbildung zum Kunststofftischler, wurde übernommen. „Viele kennen den Beruf einfach nicht“, sagt Kraatz. „Darum sind wir hier.“

Unbekannte Berufe: Hafiz Taibou erklärt den Besuchern seinen Beruf des Kunststofftischlers.

© Alix Faßmann

Lucy (16) bleibt stehen. Eine Berufsberaterin schiebt sie freundlich an den Stand. „Sie sucht eigentlich eine Ausbildung als Tischlerin.“ Kraatz erklärt, was Kunststofftischler machen: Bauteile für Kunst, Anlagen, Labor, manchmal Reagenzglashalter für die Pharmaindustrie. Lucy hört zu, nickt – und sagt am Ende trotzdem: lieber Holz. 

Dann leg ich mich wieder ins Bett und zocke.

Leonie (17) aus Marzahn ist frustriert und sucht einen Ausbildungsplatz im Einzelhandel oder der Pflege.

Im Treppenhaus drängen sich Jugendliche, warten auf Beratung, auf Korrekturen in ihren Unterlagen, auf einen Tipp. Leonie und Leeann (beide 17) sind aus Marzahn gekommen, vielleicht gibt es hier einen Weg in die Pflege oder in den Einzelhandel. Leonie war schon nah dran: fast ein Platz in einem Pflegeheim, dann kein Berufsschulplatz – und das Glück wieder weg. Jetzt kommen Absagen oder gar keine Rückmeldungen. „Das ist am schlimmsten“, sagt sie. „Dann leg’ ich mich wieder ins Bett und zocke.“

Auch wenn die Anforderungen nicht passen, einfach anrufen

Drinnen, hinter einer Glastür, sitzt Belend Mustafa (19) bei Berufsberaterin Isabell Müller. Er kam vor fünf Jahren aus Syrien, hat einen einfachen Schulabschluss, will etwas mit den Händen machen – Anlagen- oder Automechatronik. Sein Sprachzertifikat sagt „A2“, sein Deutsch klingt besser.

Zuversicht wichtig: Belend Mustafa (19) lässt sich von Isabell Müller zu seiner Bewerbung beraten.

© Alix Faßmann

Müller scrollt durch die Ausbildungsangebote: Wasserbetriebe, Verkehrsbetriebe – beide verlangen B2. „Man kann probieren“, sagt Belend. Müller nickt: „Wir können das jetzt nicht ändern, aber das Beste daraus machen.“ Dann erwähnt sie ergänzend: „B1-Kurse gibt’s im Moment kaum – Sparhaushalt.“ Belend lächelt trotzdem, seine Zuversicht ist ihm wichtig.

Fachkräftemangel trifft auf Orientierungsloch

Zehn Jahre nach der Gründung ist die JBA längst Routine – kein Projekt mehr, sondern Teil der Berliner Infrastruktur. Sie hat feste Standards, Handbücher, eine Website, eine Instagram-Präsenz. Trotzdem bleibt vieles fragil. Vor der Pandemie: leichter Rückenwind. Mit der Pandemie: Kaltfront. Danach: Fachkräftemangel trifft auf Orientierungsloch.

Jugendliche in der Jugendberufsagentur Berlin-Mitte auf der Suche nach dem richtigen Jobangebot.

© Alix Faßmann

Das erklärt die merkwürdige Gleichzeitigkeit von offenen Stellen und unversorgten Jugendlichen. Es hapert nicht nur an „Wollen“ oder „Können“, sondern oft am Match: Schulabschluss, Sprache, Entfernung zum Wohnort, Berufsschulplatz, Betrieb, der den Mut hat, auszubilden – und das alles gleichzeitig.

Beatboxer Chlorophil macht den letzten Loop, Günther-Wünsch und Kiziltepe jolen. Yusef und Abudi sitzen auf der Bank und klatschen kurz mit. Vielleicht aus Höflichkeit. Vielleicht, weil sie spüren, dass auch sie heute mitgemeint sind.

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