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Unter dem Hashtag #ihrmachtunsnackt teilen die Betroffenen Bilder auf Instagram.

© Florian Riffel

Berliner zeigen Haut: Tätowierer protestieren nackt gegen fehlende Corona-Hilfen

Aus Existenzangst protestieren Berliner unbekleidet im Internet – sie wollen wieder arbeiten dürfen. Studio-Inhaber und Solo-Selbstständige erzählen.

Von Corinna Cerruti

Die Friseursalons dürfen zwar am 1. März öffnen, alle anderen körpernahen Dienstleister müssen weiter geschlossen bleiben. Tattoo-Studios befinden sich deswegen auf dem Weg in die kollektive Pleite – so zumindest schildern es Inhaber und selbstständige Tätowierer.

Obwohl dem Beruf auch ohne Coronakrise extrem strenge Hygienevorschriften auferlegt sind, ist baldige Öffnung nicht in Sicht. Viele geraten in Existenznot, die Corona-Hilfen lassen auf sich warten.

Die Situation hat einen Bayreuther Tätowierer veranlasst, eine Protestaktion auf Instagram zu starten. Unter dem Hashtag #ihrmachtunsnackt protestieren deutsche Tätowierer:innen nackt gegen stockende Auszahlungen der Corona-Hilfen. Sie kreiden fehlende oder unvollständig überwiesene Beiträge aus dem November und Dezember an.

„Das ist ein stiller Protest, der durch die Nacktheit Aufmerksamkeit findet“, sagte der Bayreuther Tätowierer Dawid Hilgers-Lehner der dpa. Im Internet finden sich Beiträge, in denen Menschen – teils nur mit einem Schild mit dem Slogan bekleidet – vor winterlicher Kulisse auf das Thema aufmerksam machen.

Hilgers-Lehner startete die Aktion Mitte Januar. Er berichtet von Bekannten, die keine Hilfen oder nur einen Abschlag bekommen haben – einige seien bereits pleite, sagte er.

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Den Bundesverband Tattoo freut, dass „eine ohnehin bunte Branche einen kreativen, friedlichen und originellen Weg gefunden hat, den eigenen, tiefgehenden, Sorgen Ausdruck zu verleihen“, sagte der Vorsitzende Urban Slamal. Die als „Bazooka“ angekündigten Hilfen seien ein Rohrkrepierer, man müsse davon ausgehen, dass Versäumnisse von Bund und Ländern einer „nennenswerten Anzahl von Unternehmern die berufliche Existenz kosten werden“.

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Diese Existenzangst spürt auch Florian Riffel. Er ist Inhaber des Tattoo-Studios Autark am Spandauer Damm in Charlottenburg. Seit mehr als zehn Jahren arbeitet der 37-Jährige als selbstständiger Tätowierer, seit 2014 im eigenen Laden. Wie üblich in seiner Branche beschäftigt er ein Team von ebenfalls selbstständigen Tätowierern.

Zusätzlich hatte er noch zwei Festangestellte für das Shop-Management. Doch wegen der Krise habe er ihnen schon vor dem ersten Lockdown kündigen müssen. „Kurzarbeit hätte das Problem nur aufgeschoben“, sagt Riffel. Er wartet noch auf die Hilfen aus Dezember.

Florian Riffel ist Inhaber des Tattoo-Studios Autark am Spandauer Damm in Charlottenburg
Florian Riffel ist Inhaber des Tattoo-Studios Autark am Spandauer Damm in Charlottenburg

© Autark

Dem Inhaber fehlen aktuell einige tausend Euro pro Monat. Seit Januar habe er keine weitere Unterstützung erhalten. „Ich muss Ladenmiete, Nebenkosten, Versicherungen plus Privatmiete und Kosten für den Lebensunterhalt meiner Familie aufbringen. Meine Frau ist ebenfalls selbstständig. Es ist einfach nur ein Rangieren der Zahlen und abwarten und hinauszögern der Mahnungen bzw. Zahlungsanweisungen“, sagt Riffel. Anlass genug die Hüllen fallen zu lassen und ebenfalls ein Foto auf Instagram zu veröffentlichen.

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Im November kam die Ernüchterung: wieder geschlossen

Alexandra Mittelstaedt wartet ebenso dringlich auf die Coronahilfen. Die selbstständige Tätowiererin ist seit 2014 hauptsächlich in Berlin tätig. Im ersten Lockdown sei das Geld schnell gekommen, sie sei noch zuversichtlich gewesen. „Ich dachte, wir arbeiten so steril und ohnehin mit Maske. Wahrscheinlich brauchen wir uns keine Sorgen zu machen“, sagt die 42-Jährige.

Im November kam die Ernüchterung: Wieder geschlossen, wieder keine Arbeit und diesmal kein Geld. Sie sagt: „Das war eine echte Katastrophe.“ Die Hilfen habe sie erst im Januar erhalten. Die Neustart-Hilfe wird sie jetzt beantragen. Alexandra erzählt, sie habe sich Geld von ihrer Familie leihen müssen. „Ich habe mich richtig schlecht gefühlt. Mit 42 Jahren denkt man, man hat sein Leben im Griff. Und dann muss ich wie ein Teenager zu Mama laufen.“

Alexandra Mittelstaedt tätowiert eine Person am Tag - Friseure bedienen täglich mehr Kunden.
Alexandra Mittelstaedt tätowiert eine Person am Tag - Friseure bedienen täglich mehr Kunden.

© privat

Wer erst seit kurzem selbstständig ist, kann das Thema Coronahilfen abhaken. Wie der 30-Jährige, der sich den Künstlernamen „Bello“ gegeben hat. Er ist Lehrling in ersten Jahr in Riffels Tattoo-Studio. Eine Ausbildung als Tätowierer ist in Deutschland nicht anerkannt. „Wir fallen komplett durchs Raster“, sagt Bello. Studios bieten die Ausbildung meist unentgeltlich, manchmal auch kostenpflichtig an, ähnlich einer Therapieausbildung.

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Bello gilt hier auch als Selbstständiger, hält sich eigentlich mit Nebenjobs in der Gastronomie über Wasser. Die fallen in Corona-Zeiten weg. Da er erst seit einigen Monaten selbstständig ist und kein Vorjahreseinkommen nachweisen kann, gibt es für ihn keine Hilfen. Ihm blieb nur Sozialhilfe. Wegen der langen Schließung verliert er zudem Zeit, die Ausbildung verlängert sich ohne die nötige Praxis.

Auch Bello hat einen fast nacktes Foto auf seinem Instagram-Account veröffentlicht. Dort schreibt er: „Corona ist eine extreme Herausforderung für uns alle. Aber bitte, liebe #bundesregierung, wenn uns schon verboten wird, unsere Berufe auszuüben, vergessen Sie uns nicht.“

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„Wir arbeiten nach strengen hygienischen Richtlinien“

Florian Riffel sagt, er verstehe, dass mehr Menschen einen Haarschnitt als ein Tattoo brauchen. „Aber wir arbeiten nach strengen hygienischen Richtlinien – allein wegen der Gefahr der Ansteckung mit HIV oder Hepatitis“, sagt Riffel. „Wir werden auch ohne Corona ständig kontrolliert und dokumentieren jeden Kontakt. Wir müssten ja nicht im Gesicht oder am Hals tätowieren. Warum sollen wir nicht öffnen dürfen?“, fragt der 37-Jährige.

Tätowiererin Alexandra Mittelstaedt weist daraufhin, dass einen Friseursalon mindestens 20 bis 30 Kunden am Tag besuchen. „Ich tätowiere eine Person am Tag! Wenn wir zu zweit sind, haben an einem Tag vielleicht vier Personen das Studio betreten.“

Zu unterschätzen sei auch nicht die Beziehung zwischen Tätowierern und ihren Kunden. „Es kommen Menschen zu uns, die gerade eine persönliche Krise durchmachen, vielleicht ein Trauma erfahren haben.“ Diese Menschen hätten ihre Krisen im Studio verarbeitet, „wir können sie jetzt nicht unterstützen“, sagt die 42-Jährige.

Auch die Beziehung zwischen Tätowierern und Kunden sei nicht zu unterschätzen.
Auch die Beziehung zwischen Tätowierern und Kunden sei nicht zu unterschätzen.

© privat

Auch Riffel erzählt von der besonderen Beziehung zu seinen Kunden. Er bietet in seinem Salon Hypnose an für eine schmerzfreie Tattoo-Session. Dabei erfahre er viel persönliches über seine Kunden. „Du bist ja nicht nur Dienstleister, sondern auch Freund, intimer Gesprächspartner“, beschreibt der 37-Jährige.

Riffel fühlt sich machtlos in der Krise: „Wir Tätowierer sitzen wie versteinert zuhause.“ Die Politik zeige keine Perspektive auf. „Nachdem die Hilfen nicht so fließen, wie großspurig angekündigt, fühlt man sich mit dem Rücken an die Wand gestellt und hofft, von den Kugeln nicht getroffen zu werden.“ Niemand mache sich stark für die Tattoo-Branche, es gebe keine Lobby. „Wir fühlen uns nicht gesehen“, sagt Riffel.

„Wir Tätowierer sitzen wie versteinert zuhause“, sagt Riffel.
„Wir Tätowierer sitzen wie versteinert zuhause“, sagt Riffel.

© Autark

Viele gehen ins Ausland

So mancher Soloselbstständige hat sich seinem Schicksal nicht ergeben. Stattdessen seien viele ins Ausland geflüchtet. Von Bali, Mexiko, Thailand oder Russland ist die Rede. Dort dürfen sie weiter arbeiten ohne Restriktionen. Andere arbeiten wohl schwarz, tätowieren bei ihren Kunden zuhause. Die Nachfrage ist da: Auf Ebay-Kleinanzeigen finden sich eine Vielzahl an Annoncen mit dem Titel „Tätowierer gesucht“, Honorar ist oftmals „Verhandlungsbasis“.

Für Mittelstaedt ist die Situation ausweglos: „Corona bleibt bei uns. Jetzt kommt die Mutation. Ich kann nicht davon ausgehen, dass die Studios im Juni wieder aufmachen.“ Deswegen werde sie den Beruf wechseln. Im November hat sich Mittelstaedt an einer Uni eingeschrieben, studiert seitdem Neuropsychologie und Erziehung.

Sie möchte künftig beeinträchtigten Kinder und Jugendlichen helfen. Das Tätowieren will sie nicht komplett aufgeben, darauf verlassen kann sie sich nicht mehr. Sie kennt einige Tätowierer, die sich jetzt bei Supermärkten oder Drogerien beworben haben. Die Tattoo-Branche wird nach der Krise wohl nicht mehr dieselbe sein. (mit dpa)

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