
© Robert Klages
Mehr als nur Kampf für einen Gemüseladen: Seit zehn Jahren macht „Bizim Kiez“ in Berlin-Kreuzberg mobil
2015 gründete sich die Initiative „Bizim Kiez“ in Kreuzberg. Es begann mit dem Kampf für einen Gemüseladen, wurde zur stadtweiten Bewegung und endete tragisch – der Gemüseladen steht bis heute leer.
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„Da sind wir“, sagt Esther Borkam von „Bizim Kiez“ und zeigt auf ein verschlossenes Geschäft. Der familienbetriebene Gemüseladen „Bizim Bakkal“, für den sie und viele andere einst gekämpft haben, ist schon lange nicht mehr da. Borkam zuckt mit den Schultern. Seit 2016 steht das Ladengeschäft in der Wrangelstraße 77 in Berlin-Kreuzberg leer. Die Initiative feiert am 16. Juli zehnjähriges Jubiläum.
Im Jahre 2015 hatte der Eigentümer der Familie gekündigt. Daraufhin bildete sich die Initiative, viele Leute wollten die Verdrängung des beliebten Geschäfts nicht hinnehmen. Immer mittwochs fanden Kundgebungen statt, mit Suppe und Musik. Hunderte Menschen schlossen sich der Bewegung „Bizim Kiez“ an – und konnten bald den ersten Erfolg feiern: Der Eigentümer, ein großer Investor, lenkte ein und nahm die Kündigung zurück.
Doch schon ein halbes Jahr später folgte Ernüchterung: Betreiber Ahmet Çaliskan war erkrankt und seine Söhne wollten den Gemüseladen nicht weiterführen, eine Übernahme von anderen Personen genehmigte der Eigentümer nicht. Dies bedeutete das Ende nach 28 Jahren.
Drei Gründungsmitglieder von „Bizim Kiez“ blicken nach 10 Jahren zurück auf eine Zeit, in der scheinbar vieles möglich war, in der der Kiez mobil machte. Bald schon ging es um mehr als nur den Gemüseladen, sondern um ganz Berlin. Wie steht es heute um die Bewegung gegen Gentrifizierung?
„Der Gemüseladen, da hat es uns gereicht“, sagt Borkam rückblickend. Philipp Vergin und Fabian Steinecke neben ihr nicken. Die drei waren von Anfang an dabei und organisieren nun eine Jubiläumsparty am Mittwoch, dem 16. Juli, ab 18 Uhr. Natürlich wieder vor dem ehemaligen Laden, auch wieder mit Suppe und Musik. Wie früher.
Damals gab es das Gefühl, da geht was, wir können was verändern.
Esther Borkam von „Bizim Kiez“.
„Damals gab es wirklich das Gefühl, da geht was, wir können was verändern“, sagt Steinecke. Schon vor „Bizim Bakkal“ hatten Geschäfte schließen müssen. Aber dieses hier war sehr beliebt – mehr als ein Einkaufsladen, sondern Treffpunkt und Begegnungsraum.
Als die Nachricht von der Kündigung eintraf, ging alles Hand in Hand: Man traf sich, machte Flyer und Plakate, jemand rief die Presse an, es fanden Plenen statt und „Aktionsgruppen“ wurden gebildet. Zum ersten Treffen vor Ort kamen 30 Anwohnende, beim zweiten waren es bereits über 100.
„Das war neu für uns“, erzählt Vergin. „Stadt ist ja eigentlich ein anonymer Raum, aber jetzt organisierten wir uns mit einem gemeinsamen Ziel: Der Gemüseladen sollten bleiben.“ Eigentümer des Gebäudes ist ein stadtbekannter Investor, ihm gehören mehrere Großprojekte. Kein leichter Gegner für eine Gruppe Anwohnender.
Radikal nur in den Forderungen, nicht in der Protestform.
Philipp Vergin über die Initiative „Bizim Kiez“
„Die Leute kamen auch wegen der Suppe“, ist sich Vergin sicher und lacht. Die Kundgebungen waren bunt, mit viel Musik. Es sei divers gewesen: Familien mit Kindern, Studierende und Migranten. „Radikal nur in den Forderungen, nicht in der Protestform“, sagt Vergin.
Als es schließlich den Erhalt des Ladens zu feiern gab, wurde „Bizim Kiez“ bekannt. Internationale Bewegungen kamen vorbei und wollten sich die Organisationsform anschauen, an Universitäten wurden Arbeiten über die Gruppe geschrieben.

© Robert Klages
Das Ende des Gemüseladens war nicht das Ende der Gruppe. Sie schauten auf diverse Themen im Kiez, ein funktionierendes Netzwerk war aufgebaut und es wurde für den Erhalt eines Buchladens gekämpft. Der Erwartungsdruck stieg. „Wir sollten uns plötzlich zu allen möglichen politischen Themen der Stadt äußern“, berichten die drei. Der Baustadtrat habe immer angerufen und Politiker:innen aller Parteien wollten auf den Kundgebungen im Wrangelkiez ins Mikrofon sprechen.
„Darüber haben wir viel diskutiert“, sagt Steinecke. „Wir schätzen das, wenn sich Politiker für die Ziele einsetzen, aber manche wollten Parteipolitik und Wahlkampf bei uns betreiben.“ Zudem hätten Politiker ja bereits Reichweiten und könnten überall ihre Meinung sagen. „Bei uns sollte das Mikrofon den Anwohnern gehören.“ Und das „Open Mic“ an den Mittwochabenden wurde genutzt: Manche hörten nicht mehr auf zu reden.
„Es entstand bald eine Art Professionalisierungsdruck“, erinnert sich Vergin. „Aber wir konnten das nicht mehr bedienen, wir haben es ja ehrenamtlich gemacht.“ Es kamen so viele Anfragen zu stadtpolitischen Themen aus ganz Deutschland.
Zudem machte der laufende Gerichtsstreit mit dem Investor der Gruppe zu schaffen – bis zum Bundesgerichtshof, nicht nur mit Niederlagen, aber mit viel Aufwand und Kraftverlust. Es ging um Dinge , die auf der Webseite geschrieben worden waren oder um getätigte Aussagen von „Bizim Kiez“.
Um die Prozesskosten und Strafen zu zahlen, wurden „Soli-Abende“ veranstaltet. Nicht mehr vor dem ehemaligen Gemüseladen mit Suppe, sondern in großen Locations wie dem Lido oder dem Festsaal Kreuzberg und mit Musik von „Egotronic“ und Jens Friebe.
Heute besteht die Kerngruppe aus nicht mal mehr zehn Personen. Sie freuen sich auf das Jubiläum, es soll eine gute Party für den Kiez werden, um wieder mehr zusammenzufinden. „Gentrifizierung und Verdrängung sind wohl nicht komplett aufzuhalten“, sagt Borkam. „Aber Initiative und Proteste können sie verlangsamen.“
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