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Gedenktafel für verstorbene obdachlose Menschen am Berliner Ostbahnhof.

© gangway e.V.

„Sie bleiben für immer ein Teil dieser Stadt“: Erste Gedenktafel für verstorbene Obdachlose in Berlin aufgestellt

Berlin hat seine erste Gedenktafel für verstorbene obdachlose Menschen. Der Verein „Gangway“ hat die Aktion ohne Absprache mit Stadt oder Bezirk durchgeführt – und plant weitere Tafeln.

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Jedes Jahr sterben zahlreiche obdachlose Menschen auf den Straßen Berlins. Die Stadt hat keine Gedenktafel oder einen Ort des Gedenkens. „Gangway“, ein freier Träger der Straßensozialarbeit, finanziert von der Stadt, hat am Donnerstag eine erste Gedenktafel am Ostbahnhof im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg aufgestellt.

„Zum Gedenken an die verstorbenen obdachlosen Menschen, die hier lebten, diesen Ort mitprägten und für immer ein Teil dieser Stadt bleiben“, steht auf der wetterfesten Tafel.

Die Stadt oder der Bezirk wurden über die Aktion nicht in Kenntnis gesetzt. Gangway sagte auf Nachfrage, vorab niemanden, auch nicht die Presse, über das Vorhaben informiert zu haben, weil keine Genehmigung vorliegt. Zudem sollte die Einweihung im kleinen Kreis stattfinden – mit Menschen, die auch selbst von Obdachlosigkeit betroffen sind.

Um die Tafel zu sichern, ist sie an einen Baum auf einer Wiese vor dem Ostbahnhof gekettet. Adresse: Andreasstraße 18. Daneben hängen Fotos von 30 verstorbenen Obdachlosen, die in den vergangenen zehn Jahren hauptsächlich in dieser Gegend gelebt haben. Zur Aufstellung am Donnerstag kamen einige Freunde und Wegbegleiter.

Die Gedenktafel für verstorbene obdachlose Menschen am Berliner Ostbahnhof.

© gangway e.V.

Gangway hofft, dass die Tafel von der Stadt und dem Bezirk akzeptiert und nicht durch Vandalismus zerstört wird. Es sollen weitere Gedenktafeln an noch unbekannten Orten folgen. „Wir möchten damit an jene erinnern, die auf der Straße lebten und auf der Straße starben“, teilt Gangway mit. „Wir möchten sichtbar machen, was sonst unsichtbar bleibt, und ein Zeichen setzen gegen die Gleichgültigkeit. Jeder Mensch verdient Würde – im Leben und im Tod.“

Viele Tode geschehen leise, einsam und anonym – unbemerkt von der Umgebung, den Orten und der Nachbarschaft, an denen sich die Obdachlosen teils über lange Zeit aufhielten. „Es fällt oft erst auf, wenn sie plötzlich fehlen und nicht mehr an den gewohnten Plätzen sitzen“, heißt es von Gangway. „Viele Tode wären vermeidbar, sind nicht einfach nur Schicksal.“

Fotos von verstorbenen Obdachlosen wurden in den Baum gehängt.

© gangway e.V.

Laut Gangway sind die Notunterkünfte der Stadt nicht ausreichend ausgestattet, zu anonym und zu unsicher. Hinzu komme fehlender Zugang zu medizinischer Versorgung. „Aus unbehandelten Wunden werden schwere Infektionen, aus einer Erkältung eine Lungenentzündung.“

Der Weg zu Entzug oder Substitution sei aufwendig und mit Hürden und bürokratischen Barrieren verbunden oder für viele sozialrechtlich gar nicht möglich – „oft bleibt nur der gefährliche Selbstentzug oder die weitere Abhängigkeit“. Zudem würden obdachlose Menschen immer wieder Opfer von Gewalt.

Gangway kritisiert zudem den Umgang mit dem Versterben von Obdachlosen. „Oft bleibt unklar, wann und wo eine Bestattung stattfindet. Nicht selten geschieht diese anonym – eine schlichte ordnungsrechtliche Beerdigung, veranlasst von den Behörden, ohne Angehörige, ohne Freund:innen, ohne letzte Worte.“ So bleibe den Weggefährt:innen, Sozialarbeiter:innen und Bekannten kein Ort des Abschieds, kein Raum für Trauer.

Dies sei Ausdruck einer „gesamtgesellschaftlichen Haltung, die Obdachlosigkeit weiterhin als individuelle Schicksale behandelt – als etwas, das ‚eben passiert‘, aber nicht als das, was es ist: ein strukturelles Versagen und eine Frage der Menschenwürde“.

Die Gedenktafel am Ostbahnhof und folgende Tafeln sollen dies nachholen und den Menschen post mortem ihre Sichtbarkeit und Würde zurückgeben.

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