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© Buchfunk

„Spazieren in Berlin“ von Franz Hessel: Heimat ohne Geschrei

Das Flanier-Buch des Berliner Schriftstellers Franz Hessel ist das literarische Dokument einer Metropole im Wandel. Das 1929 erschienene Werk und sein Autor erhalten spät die verdiente Ehre.

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Die Heimatstadt hat ihn dann endlich auch geehrt. „Heimat ist Geheimnis, nicht Geschrei“, steht auf der Gedenktafel für Franz Hessel, die vor einem Jahr an seinem früheren Wohnhaus in der Lindauer Straße im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg enthüllt wurde. Ein passender, nachdenklicher Satz von einem leisen, liebenswerten Menschen, der inmitten des Nazi-Geschreis aufgrund seiner jüdischen Herkunft der Heimat beraubt wurde und nach seiner Flucht an den Folgen einer Lagerhaft starb.

Eine dieser unendlich traurigen deutschen Geschichten, in Hessels Fall eine deutsch-französische Geschichte: Denn der deutsche Schriftsteller hatte schon vor seiner Flucht nach Frankreich zwischenzeitlich dort gelebt. Die sich zwischen Deutschland und Frankreich abspielende Dreiecksbeziehung zwischen ihm, seiner Frau Helen und dem Schriftsteller Henri-Pierre Roché wurde zur Filmvorlage für „Jules et Jim“ von François Truffaut.

In der Lindauer Straße 8 im Bayerischen Viertel wurde im April 2013 diese Gedenktafel für Franz Hessel enthüllt. Sein Geburtstdatum darauf bedarf allerdings einer Korrektur, es ist der 21. November 1880.

© Wikipedia/OFTW

Hessels Heimat aber war Berlin, wo er trotz allen Nazi-Geschreis bleiben wollte und von wo er erst 1938 floh. In der hektischen Metropole der Zwanzigerjahre war er der zurückhaltende Beobachter, der Spaziergänger, der aus alltäglichen Begehungen und Begebenheiten Literatur machte. „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen“, schreibt Hessel in „Spazieren in Berlin“, seinem 1929 erschienenen Buch, das seine Flaneur-Feuilletons versammelt.

Stéphane Hessel schrieb das Geleitwort zur Neuauflage

Das heutige Berlin ist längst nicht mehr so weltstädtisch laut, sondern in weiten Teilen doch eher gemütlich. Aber es wandelt sich wie Hessels Berlin. „Ich muss eine Art Heimatskunde treiben, mich um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern“, schrieb er, „dieser Stadt, die immer unterwegs, immer im Begriff, anders zu werden, ist.“

Der Schriftsteller Franz Hessel.
Franz Hessel (1880 - 1941)

© Sammlung M. Flügge

Folgerichtig wurde „Spazieren in Berlin“ 2011 neu aufgelegt, mit einem Geleitwort von Stéphane Hessel, des inzwischen auch berühmt gewordenen, 1917 in Berlin geborenen Sohnes. Ein Jahr später erschienen die Spaziergänge als E-Book, und nun liegt ein Hörbuch vor, das knapp die Hälfte der Berlin-Feuilletons mit dem sinfonischen Jazz des Composers’ Orchestra Berlin verbindet.

Das „Bilderbuch in Worten“ wird zum Klingen gebracht, zu einem Bilderbuch zum Hören. Besonders eindrucksvoll gelingt das Zusammenspiel von Musik und Sprache in den Passagen zur Berliner Arbeitswelt, in denen Hessel industrielle Abläufe detailliert-poetisch darstellt. Kapitel wie "Ball für die ältere Jugend" oder "Vergnügungsdampfer mit Musik" eignen sich schon vom Sujet her für eine akustische Bearbeitung. Aber auch und gerade, wenn es weniger konkret zugeht, zum Beispiel im Kapitel "Stadt der Zukunft", funktioniert der kühle Jazz. Bei den architektonischen Umsturzplänen übrigens damals schon im Mittelpunkt: der Alexanderplatz.

Hessels unaufdringliche Sprachmacht stellt ihrem Interpreten eine besondere Aufgabe. Der Schauspieler Sebastian Weber schafft es, den Kontrast zwischen der dichterischen Formulierungskunst und dem zurückhaltenden Gestus zu erhalten, auch wenn er einige wenige Male ins Deklamieren gerät und beinahe das wird, was Hessel nie war: laut.

P.S.: Was Hessel über das Bayerische Viertel schrieb, seinen späteren Kiez

„Nördlich vom Stadtpark liegt das rühmlich bekannte ‘Bayrische Viertel’. Wieviel davon man zu Berlin, zu Schöneberg oder zu Wilmersdorf rechnen soll, weiß ich nicht. Es ist nicht so rechtwinkelig und geradlinig angelegt wie Berlin W. Und statt uns darüber zu freuen, fluchen wir Undankbaren, daß wir uns in all diesem Heilbronn, Regensburg, Landshut und Aschaffenburg immer wieder verirren. Uns kann man’s nie recht machen. Auch die allerlei Brunnen- und Baumanlagen nehmen wir, ohne sie recht zu beachten, hin. In einigen Winkeln stoßen wir auf Versuche, altdeutsche Stadt nachzumachen, die rührend scheitern. Man muß nicht allzu streng mit dem Bayrischen Viertel sein. Als es gebaut wurde, gab es noch nicht unser gleich- und alleinseligmachendes Laufband.“ (Aus: Spazieren in Berlin.)

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