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Charlotte Friedenthal vor 1945.

© Staatsarchiv Basel, 42922

Stille Helden Zehlendorfs: Teil 7 der Serie: Das Wunder des "Unternehmen Sieben"

15 Juden konnte das "Unternehmen Sieben", ein als Ausschleusung von Agenten der Abwehr getarntes Unternehmen, zur Flucht in die Schweiz verhelfen. Eine von ihnen war Charlotte Friedenthal aus der Ihnestraße in Zehlendorf, über die unser Autor in Teil sieben seiner Serie schreibt.

In dem vorangegangenen Beitrag über Maria Gerhard aus der Ihnestraße 51 hatte ich schon von Charlotte Friedenthal geschrieben, die dort vor und nach ihrer Emigration in die Schweiz gelebt hat. Sie war wie Marga Meusel Sozialfürsorgerin gewesen und mit ihr eng befreundet. Durch Marga Meusel kam sie nach Machtergreifung der Nazis auch mit der Bekennenden Kirche und der Kirchenleitung unter Superintendent Albertz in Kontakt und wurde nach kurzer Zeit zu einer der engsten Vertrauten der Kirchenleitung. Maria Gerhard berichtet darüber: „Das war im Herbst 1937, da habe ich dann auch Lotte kennengelernt. Sie war ja mehr eine geistige Mitarbeiterin als eine Sekretärin von Albertz.“

Charlotte Friedenthal (1892 – 1973) stammte aus Breslau und war dort Wohlfahrtspflegerin. Da sie trotz ihres protestantischen Glaubens unter den Nazis als Jüdin galt, verlor sie ihre Stellung und zog nach Berlin. Zusammen mit Marga Meusel versuchte sie die Innere Mission dazu zu bewegen, eine „Hilfsstelle für christliche Nichtarier“ einzurichten und den Leiter der Betheler Anstalten Friedrich von Bodelschwingh für dieses Anliegen zu gewinnen. Charlotte Friedenthal schrieb ihm daher einen eindringlichen Brief und legte ihm ihre Not und die ihrer Leidensgenossen ans Herz, die sie „aus eigenem Erleben“ kannte. Bodelschwingh sagte wegen „Überlastung“ ab.

Schon 1940 hatte sie ihre Koffer gepackt, weil ihr die Lage brenzlig erschien

Auch durch diese Initiative entstand ein enger Kontakt zwischen Charlotte Friedenthal und Superintendent Albertz, der sie mit immer weiteren Aufgaben betraute, so dass sie zu einer der wichtigsten Mitarbeiterinnen für ihn wurde. Ab 2. März 1936 war sie offiziell seine Sekretärin, seit langen Jahren wieder eine bezahlte Stelle. Zu ihren Aufgaben im Auftrag der Kirchenleitung gehörte es auch, Kontakte zu ausländischen Organisationen und der Ökumene zu knüpfen. Zu den Kontaktpartnern gehörten Adolf Keller in Genf, Bischoff George Bell in Chichester (England) und seine Schwägerin Laura Livingstone in London. Ab 1939 war sie als „Privatsekretärin“ von Superintendent Albertz die leitende Sekretärin der Kirchenleitung (2.VKL) und lebte ab 1939 fast durchgehend in der Ihnestraße, obwohl sie offiziell in einem „Judenhaus“ im Hindenburgdamm gemeldet war. Am 8. November 1940 deponierte sie zwei Koffer von sich zusätzlich in der Ihnestraße, weil ihr die Lage immer brenzliger erschien. Und nach der Verhaftung von Albertz 1941 führte sie zusammen mit wenigen in Freiheit verbliebenen Mitarbeitern von Albertz wie Pfarrer Rott die Geschäfte der Kirchenleitung provisorisch weiter. In dem Erinnerungsband an Wilhelm Rott, den seine Tochter Bettina Rott 2007 herausgegeben hat, heißt es mit Quellenverweis auf Eberhard Bethge zu dem VKL-Büro von Wilhelm Rott, dass es „zu den wenigen Organen der Bekennenden Kirche gehört, das noch funktioniert.

Pfarrer Rott im Büro in der Ihnestraße 51.
Pfarrer Rott im Büro in der Ihnestraße 51.

© Bettina Rott

Für die Kirchenleitung kam sie auch mit den beiden Rechtsanwälten Julius Fliess und Fritz Werner Arnold in Kontakt, die unter den Nazis als Juden galten und ab 1938 nur noch als „Konsulenten“ tätig sein durften. Arnold war ab 1938 auch als juristischer Berater des „Büro Grübers“, das sich um (Auswander)Hilfe und Unterstützung nicht arischer evangelischer Christen bemühte, tätig. Er hatte bei seinen vorangegangenen Bemühungen, schwerkriegsverletzten jüdischen Rechtsanwälten die Arbeitsmöglichkeiten zu erhalten, im Justizministerium Hans von Dohnanyi, den Schwager von Dietrich Bonhoeffer, kennengelernt, der damals Büroleiter des Justizministers war und der auch in seiner späteren Tätigkeit im Amt Ausland/Abwehr des OKW (Amt Canaris) den Kontakt zu Arnold hielt und ihm schließlich im Rahmen des sogenannten „Unternehmen Sieben“ ermöglichte, in die Schweiz zu emigrieren. Arnold war auch derjenige, der für Dohnanyi und Canaris die notwendigen Kontakte zu denjenigen hielt, die mit auf die Liste der „Agenten“ des Unternehmens Sieben kommen sollten. Über ihn lief auch die Zusammentragung aller notwendigen persönlichen Papiere. Maria Gerhard wusste von diesen Bemühungen und sagte dazu:„Ich weiß noch, dass Dr. Arnold sehr viel mit Rott und den anderen verhandelt hat. Wir mussten ja möglichst unwissend bleiben. Deswegen haben sie uns manches ja auch nicht gesagt.“

Für den Transport der Papiere und von Dokumenten war auch einmal die Nichte von Maria Gerhard „im Dienst“, ohne genau zu wissen, worum es ging. Als 15-jährige Schülerin transportierte sie in ihrer Schultasche die Unterlagen von der Ihnestraße in das Büro von Dr. Arnold in der Ludwigkirchstraße in Wilmersdorf. Das war mit der U-Bahn unauffällig möglich. Sie versah diesen wichtigen Dienst am 16.09. 1942, um die letzten Papiere zu Dr. Arnold zu bringen, der mit den anderen am 29.09. Berlin verließ.

 Charlotte Friedenthal stand unter dem Schutz Dietrich Bonhoeffers

Durch dieses Unternehmen wurde auch Charlotte Friedenthal gerettet, nachdem andere intensive Bemühungen zwar zu einem Einreisevisum der Schweiz geführt hatten, sie aber durch einen Erlass von Himmler vom 23.10.1941 gestoppt wurden, durch den „die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu verhindern ist.“ Dietrich Bonhoeffer hatte Charlotte Friedenthal in der Ihnestraße kennen und schätzen gelernt und sie Ende 1941 dem Schutz seines Schwagers und des Amtes Ausland/Abwehr anempfohlen. Winfried Meyer beschreibt in seinem Buch detailliert den Lebensweg von Charlotte Friedenthal und die einzelnen Schritte ihrer Rettung (S. 70ff). Diesem Buch sind auch die zitierten Berichte von Maria Gerhard über die Ihnestraße 51 entnommen, die Winfried Meyer 1986 in ihrer neuen Heimat in Niedersachsen interviewt hatte.

Vom Anhalter Bahnhof emigrierte Charlotte Friedenthal in die Schweiz.
Vom Anhalter Bahnhof emigrierte Charlotte Friedenthal in die Schweiz.

© Landesarchiv Berlin, 233042

Maria Gerhard schildert in dem Interview auch die Ausreise von Charlotte Friedenthal, die einen Tag vor Ablauf ihrer Einreisebewilligung für die Schweiz stattfand:

„Am 4.9.1942 erfolgte die Ausreise nach Basel in der Schweiz. ... Vor der Abreise fragten wir uns dann immer: Wird es klappen, wird es nicht klappen? Dann auf einmal hieß es: es ist soweit. Sie fuhr vom Anhalter Bahnhof ab, und da habe ich sie hingebracht."

Da kamen wir dann zum Bahnhof und es fiel uns plötzlich ein, sollte sie nun mit Stern oder ohne reisen. Sie kam ja legal rüber, hatte ihre Fahrkarte. Da sagte ich dann: Du, Lotte, wie machen wir es denn nun mit deinem Stern, wenn Du dort ankommst auf der deutschen Seite in Basel als Nichtarierin, man weiß ja nicht, was dann passiert. Ich erinnere mich noch, daß ich dann vom Bahnhof aus angerufen habe bei Rott und Bonhoeffer und gefragt, was wir machen sollen. Sie hat den Stern dann etwas unter dem Mantelkragen versteckt und sich im Abteil auf den Mantel gesetzt. Also, es gab bis zum letzten Augenblick immer wieder Dinge, die gefährlich für sie werden konnten. Ich habe sie in ihr Abteil dritter Klasse gesetzt und wir haben uns dann verabschiedet wie die anderen Leute auch, die jemand an die Bahn gebracht hatten. Der Zug ging dann planmäßig. Über die Grenze ging dann alles normal, die Papiere hatte sie ja, sie brauchte sich um nichts zu kümmern, es waren ja besondere Papiere nötig, für alle Eventualitäten.“

Am Badischen Bahnhof in Basel angekommen darf Charlotte Friedenthal ihren Stern ablegen - welch ein Augenblick.
Am Badischen Bahnhof in Basel angekommen darf Charlotte Friedenthal ihren Stern ablegen - welch ein Augenblick.

© www.look-bach.ch

Das Tagebuch von Charlotte Friedenthal.
Das Tagebuch von Charlotte Friedenthal.

© Hartmut Ludwig

Winfried Meyer zitiert in seinem Buch auch die Tagebucheintragung von Charlotte Friedenthal von der Eisenbahnfahrt nach Basel:  »Die Fülle im Zug nimmt von Karlsruhe an ab, von Freiburg an sind nur noch wenige Reisende vorhanden. Die Sonne leuchtet durch die Fenster meines Abteils, in dem ich mich allein befinde. ... In Weil a. Rh., letzte Station vor Basel, Paßkontrolle. Alles in Ordnung. Kennkarte und Reisebescheinigung werden mir abgenommen. ... Gegen 12 Uhr, mit etwa einer Stunde Verspätung, ist die Grenze überschritten. Auf dem Bahnhof (DRB) folge ich den wenigen Reisenden. 10 RM wechselt die Bank in Francs um. Ein alter Gepäckträger bietet mir seine Hilfe an und zeigt mir die verschiedenen zu passierenden Stationen. Paß- und Devisenkontrolle in Ordnung. Zoll-, Arzt- u. Gepäckkontrolle. Ich vergesse ganz oder bemerke es nicht, daß ich auf Schweizer Boden bin. Zwei Beamte machen mich sehr freundlich darauf aufmerksam, daß ich den Stern ablegen kann. Welch ein Augenblick!!! Ein Schweizer Beamter lächelt mich an u. sagt: Sie sind aber ein Glückspilz! Das ist ja ein Wunder!« (S. 304)

Charlotte Friedenthal verfasste im Exil eine Denkschrift, die selbst nach 1945 noch nicht unter ihrem Namen erscheinen durfte.
Charlotte Friedenthal verfasste im Exil eine Denkschrift, die selbst nach 1945 noch nicht unter ihrem Namen erscheinen durfte.

© Winfried Meyer

Charlotte Friedenthal musste während des Krieges in Basel bleiben und durfte nach Überwindung erheblicher Schwierigkeiten gelegentlich für den ökumenischen Rat der Kirchen in Genf „rein wissenschaftlich“ arbeiten, u. a. an einer Denkschrift unter dem Titel: Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Judenfrage, die aber wegen des strikten Betätigungsverbots der Schweizer Behörden selbst 1945 noch nicht unter ihrem Namen erscheinen durfte.

Die anderen „Agenten“ des Unternehmens Sieben, unter ihnen Fritz Werner Arnold mit seiner Familie und auch Annemarie Conzen mit ihren Töchtern aus der Altvaterstraße in Schlachtensee, die in der Nachbarschaft von Canaris wohnte und ebenfalls Maria Gerhard kannte und häufig besuchte (auch später wieder) verließen am 29.September 1942 Berlin und kamen wohlbehalten in der Schweiz an. Sie wurden von einem Abwehroffizier begleitet, der die Ausreise wie folgt beschrieb: „In Lörrach wollte mir allerdings eine SD-Zugstreife Schwierigkeiten machen, die Weiterreise fortzusetzen, da sie ja an ihren Kleidern den gelben Stern trugen. Aber dank meines Ausweises und meines entsprechend energischen Auftretens konnten wir die Reise zur Schweizer Grenze fortsetzen.“ (S. 311f)

Auch Annemarie Conzen floh mit ihren Töchtern aus Berlin in die Schweiz.
Auch Annemarie Conzen floh mit ihren Töchtern aus Berlin in die Schweiz.

© Winfrid Meyer

Annemarie Conzen war nach der NS-Zeit noch zweimal in Berlin und wohnte jeweils bei Maria Gerhard und Charlotte Friedenthal in der Ihnestraße 51. Im Gästebuch des „Hauses Gerhard“ beschreibt sie ihre Zeit dort mit den Worten: „Den beiden lieben Bewohnerinnen der Ihnestraße gilt mein Dank. Lotte, die treue Freundin aus der gemeinsam verbrachten Baseler Emigrationszeit, und Fräulein Gerhard, die mich in den 14 Tagen meines Berliner Aufenthalts so hausfraulich umsorgte. Dass in diese Zeit Lottes 60. Geburtstag (=1.12.) fiel und dass es nach drei Jahren argentinischen Sommer-Dezember-Wochen die 1. Adventszeit bei Eis und Schnee und Regenschirm war, verleiht diesen Tagen für mich noch einen besonderen Glanz! Ich scheide mit traurigem Herzen und mit dem sicher in weiter Ferne liegenden Wunsche, einmal wiederkehren zu dürfen.“

Maria Gerhard (links) und Charlotte Friedenthal (rechts) im Garten in der Ihnestraße um 1950.
Maria Gerhard (links) und Charlotte Friedenthal (rechts) im Garten in der Ihnestraße um 1950.

© Irmela Priepke

Und 1960 trägt sie ein: „Mein vor sieben Jahren geschriebener Wunsch, wiederkehren zu dürfen, ist in Erfüllung gegangen. Ein unvergleichlich schönes und harmonisches Weihnachtsfest durfte ich mit Lotte und Maria Gerhard feiern. In den fast drei Wochen meines Hierseins erlebte ich ein Stückchen der schweren Geschichte der geteilten Stadt Berlin, aber stärker als die Traurigkeit des politischen Geschehens leuchtet in meinen Gedanken die Treue und die Freundschaft, die ich in dem gastlichen Hause in der Ihnestraße empfing. Ich scheide in großer Dankbarkeit, dass mir diese schöne Zeit geschenkt wurde.“

Maria Gerhard und Charlotte Friedenthal waren Menschen, die sich trotz aller Prüfungen und Bedrohungen nicht haben unterkriegen lassen, die bewusst in ihrer Zeit lebten, die mit ihren Gästen Theater, Konzerte und Museen in Berlin besuchten, die an den Berliner Kirchentagen und dem Dahlemer Gemeindeleben aktiv teilnahmen und doch auch in sich ruhten. Die Erinnerung an sie wachzuhalten, möchte ich allen Leserinnen und Lesern ans Herz legen.

Dirk Jordan arbeitet in der AG Spurensuche der Kirchengemeinde Schlachtensee, war früher Volksbildungsstadtrat in Kreuzberg und schreibt für den Zehlendorf Blog eine Serie über die "Stillen Helden" im Nationalsozialismus. Der Text erscheint auf dem Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

Dirk Jordan

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