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Canisius-Kolleg in Berlin: Betroffene von Missbrauch fordern staatliches Eingreifen
15 Jahre ist es her, dass Fälle von sexuellem Missbrauch am Berliner Canisius-Kolleg bekannt wurden – ein historischer Wendepunkt. Die Betroffenen sehen sich nach wie vor im Stich gelassen.
Stand:
Es war der 14. Januar 2010. Drei ehemalige Schüler des Berliner Canisius-Kollegs, eines vom Jesuitenorden betriebenen, hoch angesehenen altsprachlichen Gymnasiums im Westen der Stadt, besuchten den Rektor der Schule, Pater Klaus Mertes.
Sie hätten 1980 ihr Abitur abgelegt, wollten am 30-jährigen Abiturjubiläum teilnehmen, und baten darum, dass zwei ehemalige Lehrer dazu nicht eingeladen würden. Denn die beiden Lehrer waren Missbrauchstäter.
Mertes schrieb daraufhin an alle ehemaligen Schüler jener Zeit einen Brief, der dann in der „Berliner Morgenpost“ veröffentlicht wurde. Das Gespräch der ehemaligen Schüler mit dem Pater war der Stein, der alles ins Rollen brachte, was später als „Missbrauchsskandal“ in der katholischen Kirche in Deutschland bekannt wurde.
Vor 15 Jahren wurde deutlich, dass es nicht nur in Irland oder den USA, sondern auch in Deutschland umfangreiche, teils systematische Fälle sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche gab. „Die Betroffenen machten damals deutlich, dass bei jedem Täter mit bis zu 100 Opfern zu rechnen sei“, erinnert sich Mertes. „Die Aussage, es wären immer nur Einzelfälle, war schlagartig weggefegt.“
Doch heute, 15 Jahre später, ist die Aufarbeitung des Missbrauchs noch lange nicht abgeschlossen – in beiden großen Kirchen ebenso wenig wie in der übrigen Gesellschaft. Zwar gab es zwischenzeitlich die sogenannte MHG-Studie, bei der die katholische Kirche die Personalakten ihrer Priester untersuchen ließ, und die auf 1670 beschuldigte Kleriker und rund 3600 Betroffene kam.
Zwar wurden bislang rund 44 Millionen freiwillige Anerkennungsleistungen allein von der katholischen Kirche gezahlt. Zwar ist auch in der evangelischen Kirche die Aufarbeitung mittlerweile in Gang gekommen.
Statt die Chance zu ergreifen, mit einem Thema voranzugehen und das moralisch richtige mit vollster Überzeugung zu tun, steht bei der Kirche leider oft das Bedürfnis, sich zu entschuldigen im Vordergrund.
Astrid Mayer, Mitglied des Aktionsbündnisses der Betroffeneninitiativen
Doch Betroffene sehen sich noch immer viel zu oft „einer Institution gegenübergesetzt, die die Begegnung mit uns als Machtkampf betrachtet“, sagte Astrid Mayer, Mitglied des Aktionsbündnisses der Betroffeneninitiativen, am Dienstag in der Berliner Bundespressekonferenz.
Sie selbst wurde als Kommunionskind im süddeutschen Bistum Rottenburg-Stuttgart von einem Geistlichen missbraucht. „Statt die Chance zu ergreifen, mit einem Thema voranzugehen und das moralisch richtige mit vollster Überzeugung zu tun, steht bei der Kirche leider oft das Bedürfnis, sich zu entschuldigen im Vordergrund.“
Zusammen mit dem Vorsitzenden der Betroffenenorganisation „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, forderte Mayer deswegen eine staatliche Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. „Die Frage einer angemessenen Entschädigung steht weiter im Raum“, sagte Mayer.
Die Betroffenen forderten „Entschädigungen für das, was sich als systemisches Verbrechen herausgestellt hatte“, sagte Katsch. „Wir bekamen aber nur Anerkennungen des Leids, die vor allem vermieden, Schuld anzuerkennen.“
Während ein besonders schwer Betroffener im Erzbistum Köln vor Gericht 300.000 Euro Entschädigung erstreiten konnte, würden die Betroffenen von den von der Kirche eingerichteten Unabhängigen Kommissionen zur Anerkennung des Leids nur „5000, 8000 oder 12.000 Euro“ bekommen. „Das ist nach 15 Jahren erbärmlich“, sagte Katsch. Eine Kirche, die jährlich Milliarden an Kirchensteuer einnehme, müsse in der Lage zu größeren Zahlungen sein.
Das ist nach 15 Jahren erbärmlich.
Matthias Katsch, Vorsitzender der Betroffenenorganisation „Eckiger Tisch“
Erst vor kurzem hatte sich auch die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung (UBSKM), Kerstin Claus, für eine Stiftungslösung ausgesprochen, die Entschädigungen an alle Betroffenen sexuellen Missbrauchs zahlen solle. Denn die meisten Missbrauchsfälle finden nach wie vor im familiären Kontext statt. Ähnliche Stiftungen gab es bereits für die Entschädigung von Heimkindern oder ehemaligen Zwangsarbeitern.
„Offenbar ist das heutige Entschädigungsrecht für Opfer sexualisierter Gewalt nicht passend“, sagte Katsch. „Ich erwarte vom nächsten Bundestag, dass man dort eine Entschädigungslösung trifft, die nach bereits anderswo erarbeiteten Standards funktioniert.“
Und auch das von der Regierungskoalition geplante Gesetz, das die Arbeit der UBSKM stärken und die Arbeit der Betroffenenvertretungen auf eine neue Grundlage stellen soll, müsse nun zügig umgesetzt werden. Denn die ersten 15 Jahre seit Bekanntwerden des Missbrauchsskandals seien bereits vergangen.
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