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Das Utopia Orchester bei der Probe in der Kapelle des Seniorenzentrums St. Elisabeth-Stift in Prenzlauer Berg.

© Foto: Rilana Kubassa

Musikprojekt „Werkstatt Utopia“: Das erste inklusive Orchester Berlins probt in Pankow

Das Utopia-Orchester vereint Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Sie proben in einem Pflegeheim in Prenzlauer Berg.

Bis die 15 Musiker:innen des Utopia Orchesters an ihren Plätzen sitzen, dauert es ein bisschen an diesem Abend in der Kapelle des Seniorenzentrums St. Elisabeth-Stift in Prenzlauer Berg: Es ist die erste Probe nach den Sommerferien. Die Ensemble-Mitglieder begrüßen sich herzlich, sprechen ein paar Sätze miteinander. Besonders mit Mariano Domingo, dem Dirigenten und Projektleiter. Die Vorfreude auf das Spielen ist spürbar.

Seit Juni darf das Utopia Orchester hier in der Eberswalder Straße proben. Es ist das erste inklusive Orchester Berlins – für Menschen mit und ohne Behinderung - und Teil des Musikprojekts „Werkstatt Utopia“, das seit 2018 von Aktion Mensch gefördert wird. Projektträger ist der Verein KulturLeben Berlin.

Bisher probten die Musiker:innen im Nachbarschaftshaus des Moabiter Ratschlags e.V., doch für das Einhalten der Hygienevorschriften waren die Räumlichkeiten zu klein. Als Dankeschön geben die Musiker:innen im Rahmen der Freiwilligentage „Gemeinsame Sache“ am 16. September ein Konzert für die Bewohner:innen und die Mitarbeiter:innen des St. Elisabeth-Stift.

Als die Notenblätter positioniert und die Instrumente spielbereit sind, hebt Mariano Domingo die Hände – es geht los. Bei den ersten Takten des Kanons „Licht muss wieder werden“ von Matthias Claudius geht die Tür noch einmal auf. Ein Bewohner des Seniorenzentrums kommt auf seinen Rollator gestützt herein.

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Dörte Maunge hilft ihm, sich auf eine Bank zu setzen. Maunge ist Ergotherapeutin im Haus und verantwortlich für die „Gestaltung des Lebensalltags“, wie sie sagt. Dazu gehören Aktionen wie das gemeinsame Verschönern des Zauns an der Straße. Kooperationen wie diese begrüßt sie sehr. „Das Haus ist offen und ein Teil der Stadt“, sagt sie. „Das wollen wir fördern.“ Besucher seien im Haus sehr willkommen.

Mariano Domingo erzählt, dass das Orchester während der Pandemie nur in kleinen Gruppen proben konnte. Jetzt könne es endlich wieder zusammen spielen und sich neu zusammenfinden. „Die Pandemie war aber auch gut für unser Gemeinschaftsgefühl“, sagt Domingo.

Während der Pandemie traf man sich am Bildschirm

Als die Proben zunächst komplett ausfallen mussten, habe sich das Ensemble weiterhin zur gleichen Zeit getroffen – am Bildschirm. Das sei wichtig gewesen, erzählt er, denn viele Mitglieder seien aufgrund der gesundheitlichen Gefährdung nicht mehr aus dem Haus gegangen und hätten ihr soziales Leben stark eingeschränkt. Durch die digitalen Treffen sei zum Glück ein Stück des Alltags erhalten geblieben.

Isolde Weinz aus Lichtenrade ist Violinistin und Konzertmeisterin im Utopia Orchester. Die 68-Jährige schreibt auch Arrangements und spielt in den inklusiven Kammerkonzert-Gruppen und der Jazzband von „Werkstatt Utopia“ mit. Früher war sie Berufsmusikerin im Theater des Westens und im Filmorchester Babelsberg. Hier gefällt ihr besonders, dass sie mit ihrer Erfahrung anderen helfen kann. Das sei ein gutes Gefühl. „Manche haben ihr Instrument zum Beispiel erst hier wieder spielen gelernt“, sagt sie. Da könne sie viele Tipps geben.

Die Klarinettistin Claudia Posch kam über das Netzwerk behinderter Frauen in Kontakt mit dem Orchester. Seit fast 30 Jahren sitzt sie im Rollstuhl. Sie mag, dass das Orchester so offen ist. „Über Einschränkungen wird eigentlich kaum gesprochen“, sagt sie. „Die stehen hier nicht im Vordergrund.“ Nur wenn es gerade notwendig sei, etwa wenn eine Reise anstünde.

Bei Ausflügen muss man an alles Mögliche denken

Bei Ausflügen müsse man an alles Mögliche denken, erzählt Mariano Domingo. Für blinde Musiker:innen müsse es eine Audio-Aufnahme des Stücks geben, mit der sie vor der Probe üben könnten. Außerdem sei „immer ein Aufzug oder eine Rampe nötig – und Musiker:innen im Rollstuhl brauchen einen Fahrdienst“, zählt er auf. Alles müsse rechtzeitig und ganz genau organisiert werden.

Diese Ansprüche gibt es in anderen Ensembles nicht. Doch Domingo schätzt die große Empathie unter den Musiker:innen. Ihm war es wichtig, ein gemischtes Orchester zu gründen. „Die Gesellschaft ist auch gemischt“, sagt er. „Wenn ich mit der Bahn fahre, sehe ich viel Diversität – warum soll es das in einem Orchester nicht geben?“

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Mariano Domingo möchte mit dem Orchester weiterhin in der Kapelle im Sankt Elisabeth-Stift proben. „Wir haben immer eine soziale Einrichtung gesucht, wo wir auch vor den Leuten spielen können“, sagt er. Das offene Konzept des Hauses passe sehr gut zu dem des Orchesters. Auch ergeben sich neue Kontakte, das sei wichtig für einen lebendigen Austausch.

Und was sind die Pläne nach dem Aktionstag? Domingo hofft, dass das Orchester am 3. Dezember wieder auf dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen spielen kann – und er freut sich über neue Mitglieder: „Ein paar Hörner und Trompeten wären nicht schlecht“, sagt er. „Und Streicher sind auch immer gut.“

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