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Ja, wo laufen sie denn? Fußgänger am Checkpoint Charlie in Berlin.

© dpa/Christoph Soeder

Die fetten Jahre sind vorbei: Berlins U-Bahnfahrer streiken für unsere Gesundheit

Die Gewerkschaft Verdi macht den Berlinern Beine: Kaum wird die BVG bestreikt, sind die Gehwege wieder voll. Zum Wohle der Bevölkerung muss es jetzt unbefristete Arbeitsniederlegungen geben.

Ingo Salmen
Eine Glosse von Ingo Salmen

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Schrittzähler, Schlaf-App, 24-Stunden-Fitnessstudios – wir sind ein Volk der Selbstoptimierer geworden. Aber seien wir mal ehrlich: Wie oft scheitern wir daran, Hanteln zu stemmen, Kalorien zu kalkulieren, Meilen zu machen, wenn doch die Verlockungen des Lebens rufen. Das Sofa. Der Döner. Das Auto.

Ein Glück, dass es Verdi gibt. Seit Ende Januar hat die Gewerkschaft bereits an acht Tagen die BVG bestreikt und uns damit vor der Versuchung bewahrt, Bus oder Bahn zu nehmen, um durch die Stadt zu navigieren.

Gewiss: Viele sind genervt von den Arbeitsniederlegungen, müssen aufwendig organisieren, wie sie zur Arbeit kommen und ihre Kinder zur Schule bringen, müssen womöglich die Kinder zu Hause betreuen und selbst ins Homeoffice wechseln. So viel Wäsche kann man ja gar nicht aufhängen, um damit zu Hause einen ganzen Arbeitstag auszufüllen.

Endlich gibt es im Büro kein Chocolate Shaming mehr, wenn man sich einen Riegel am Automaten holt.

Ingo Salmen, Tagesspiegel-Autor, über das Glück, das uns mehr Bewegung beschert.

Unterwegs sieht es oft nicht besser aus: Autofahrer, wenn nicht durch Staus rund um die gesperrte A100-Brücke ausgebremst, hupen und brettern noch in letzter Sekunde bei Dunkelgelb über die Ampel, um nicht eine weitere Rotphase warten zu müssen. E-Scooter-Fahrer räubern über den Gehweg.

Doch die gute Nachricht ist: Berlin läuft und radelt wieder mehr. Wie an einer Perlenschnur ziehen sie sich über die roten und grünen Wege. Und voll wie selten sind die Bürgersteige.

Erst verzweifelt man noch, weil die ältere Frau davonzieht

Ein wahrer Segen ist es heutzutage, wenn man weder ganz nah an, noch ganz weit entfernt von seinem Arbeitsplatz wohnt. Dann drängt es sich einfach auf, sich an Streiktagen zu Fuß auf den Weg machen. Anfangs verzweifelt man noch ein bisschen, weil die Strecke sich zieht. Dann verzweifelt man, weil die ältere Frau nach der Fußgängerampel einfach so davonzieht. Schließlich hadert man damit, dass es im Oberschenkel zieht.

Doch bald stellt sich erste Zufriedenheit ein: das gute Gefühl, sich mehr denn je im Alltag zu bewegen, die Boni für die hohe Laufleistung in der Gesundheitsapp und im Büro endlich kein Chocolate Shaming mehr, wenn man sich am Automaten einen Riegel holt.

Doch da lauert schon die Gefahr: dass man sich zu schnell zufriedengibt, wieder nachlässig wird und am Ende des Tages, auf halber Strecke, doch noch beim Griechen einkehrt, weil man dort ja sonst nie vorbeikommt, wenn man nicht läuft.

Wenn U-Bahn-, Tram- und Busfahrer nun also für eine dicke Lohnerhöhung streiten, tun sie das eigentlich, damit alle gesünder leben. Die fetten Jahre sind vorbei. Oder doch nicht? Dass jetzt eine Schlichtung vereinbart wurde, eine Streikpause bis zum 10. April verkündet wurde, kann niemand wirklich erleichtert aufnehmen, der den Rest des Jahres mit seinem Gewicht ringt. Wahre Fitness wird uns erst eine unbefristete Arbeitsniederlegung bescheren. Fahrer, hört die Signale!

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