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Niedlich? Vielleicht. Schädlich? Ja, auch. Ratten können verschiedene Krankheiten übertragen. Sie zu bekämpfen, ist Pflicht.

© picture alliance / dpa

Schädlinge: Die Ratten sind überall

Man kann ihre Zahl nur schätzen, aber es dürfte in Berlin etwa so viele von ihnen geben wie Menschen. Wanderratten sind gut genährt und resistent. Und sie sichern viele Arbeitsplätze.

Zehn Millionen Ratten in Berlin – und plötzlich vermehren sie sich rasend schnell. Kein Wunder, dass sich der Schädlingsbekämpfer Mario Heising den neuen Krimi des Kabarettisten Horst Evers gleich am ersten Tag gekauft hat: „Meine Branche kommt ja nicht so oft in Büchern vor“, sagt Heising, der auch Landesvorsitzender des Deutschen Schädlingsbekämpferverbandes ist. Wer die Ratten beherrscht, beherrscht die Stadt in Evers’ Bestseller „König von Berlin“. Da könnte was dran sein, mag sich mancher denken, der regelmäßig in dunkle Knopfaugen blickt oder nackte Nagerschwänze in unscheinbaren Fugen verschwinden sieht. Ob beim Spaziergang am Landwehrkanal, beim Warten auf die S-Bahn oder am Müllcontainer: Die Ratten sind schon da. Oder noch da. Ach was, immer da! Gruselig, aber auch geheimnisvoll. Es gibt jedenfalls Gründe genug, sich ihnen zu nähern.

Das geschieht am besten durch die Kanalisation, wie Heising weiß: „In den Kanälen finden die Ratten Nahrung, und in Kellern wohnen sie.“ Derk Ehlert, der Wildtierbeauftragte des Senats, formuliert: „Durch die Rohre bekommen die Ratten ihr Essen ins Haus geliefert.“ Viele würden die Kanalisation – speziell die innerstädtischen „Mischwasserkanäle“ – nur nach starken Regengüssen kurz verlassen, bis die Pegel wieder sinken. Und das, obwohl es sich in aller Regel um Wanderratten handelt. Die etwas kleineren Hausratten sind in Deutschland selten geworden. Die Wanderratten dagegen seien „Opportunisten und Generalisten“, bleiben also, wo immer Menschen leben und Abfall hinterlassen. Wer den Film „Ratatouille“ gesehen hat, könnte auch sagen: Vielfraß Émile ist überall, Gourmet Rémy dagegen in Hollywood.

Gefährlich wird es für Ratten nur, wenn nebenan ein Fuchs einzieht, im falschen Moment eine Krähe auftaucht – oder eben der Kammerjäger. Heising schätzt, dass die Ratten in Berlin knapp 200 Arbeitsplätze sichern. Ehlert weiß, dass Ratten „immer schlauer werden“, weshalb man ihnen nur noch durch Gifte mit verzögerter Wirkung beikomme. Na ja, sagt Heising, der Praktiker: „Die Kumpels aus der Familie erkennen das so nicht.“ Ratten würden allenfalls so offenkundige Zusammenhänge wie den zwischen Köder und zuschnappender Falle verstehen. Der jetzt übliche Tod durch einen Blutgerinnungshemmer sei laut der Köder-Industrie „altersähnlich“ und trete nach einem bis drei Tagen ein.

Schöner als der Rattentod sind die Geschichten jener, die den Nagern öfter begegnen: Während Innenstadtbewohner von Ratten zu berichten wissen, die in Wertstoffcontainern friedlich auf den Einwurf der nächsten Ration „löffelsauberer“ Verpackungen warten, schildert ein Eigenheimbesitzer vom Stadtrand seine vergeblichen Aktivitäten, die von der Flutung der umliegenden Grundstücke über einen Räucherangriff mit Carbid reichten. Erst das in Polen gekaufte Gift eines Nachbarn habe die Familie, die jahrelang glücklich unter und von einem Walnussbaum gelebt habe, dahingerafft.

Würden die Leute keine Essensreste mehr in die Toilette, in offene Mülleimer oder gar in die Landschaft werfen, gäbe es wohl weniger Ratten. Aber eine rattenfreie Stadt ist für den Wildtierexperten Ehlert Fiktion – zumal es immer Alternativen wie Fallobst und Komposthaufen geben wird. Und Jahreszeiten spielen bei all den warmen Hohlräumen im urbanen Untergrund für die Populationen längst keine Rolle mehr.

Der Verdacht, dass die Ratten vorzugsweise in der Kanalisation hausen, nagt wiederum an Stephan Natz, dem Sprecher der Berliner Wasserbetriebe (BWB): „Ich gehe jede Wette ein, dass es auf Bahn- oder Schulhöfen mehr Ratten gibt.“ Die Mischwasserkanäle der City seien wegen der stark schwankenden Pegel als Wohnstatt ungeeignet und die getrennten Rohre in den Außenbezirken meist zu eng. Allerdings kennt auch Natz die Schauergeschichten von Kanalarbeitern, die sich mit dickem Wasserstrahl gegen wütende Rattenmütter gewehrt haben wollen. Und: In jeder der sechs Kanalbetriebsstellen beschäftigen die BWB einen ausgebildeten Rattenbekämpfer.

Bleibt die Frage, ob denn nun die Berliner in der Überzahl sind oder, wie bei Horst Evers, die Ratten. Wildtierfreund Ehlert tippt auf die Berliner, „weil man sonst noch mehr Ratten sehen würde“. Kammerjäger Mario Heising will sich ebenso wenig festlegen wie Wasserbetriebe-Sprecher Stephan Natz.

Silvia Kostner vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) hält die Größenordnung von ein bis zwei Ratten pro Berliner zumindest für denkbar. Allerdings zählt das Amt nicht die Nager, sondern die Aktionen zu ihrer Bekämpfung. 3900 waren es im vergangenen Jahr. Aber schon 2800 im ersten Halbjahr 2012. Wenn mehr bekämpft wurde, ist vermutlich auch mehr gesichtet worden. Da Ratten verschiedene Krankheiten übertragen können, ruft das Lageso auf, Sichtungen beim Gesundheitsamt zu melden. So sollen Schwerpunkte erkannt und bekämpft werden. Auch private Haus- oder Grundeigentümer sind verpflichtet, Ratten bekämpfen zu lassen.

In der Bezirksstatistik führt Mitte mit 620 gemeldeten Einsätzen im vergangenen Jahr. Das dürfte allerdings auch an der dort besonders intensiven Bautätigkeit liegen. Da müssen die Ratten halt öfter mal umziehen. Aber es sind ja Wanderratten.

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