zum Hauptinhalt
Thomas Markgraff-Kosch, Diakon der katholischen Kirchengemeinde Herz Jesu in Berlin-Tempelhof.

© Sven Darmer

Ein Kuss veränderte alles: Wie ein West-Berliner Kommunist zum Diakon wurde

Der frühere Kommunist Thomas Markgraff-Kosch ist jetzt engagierter katholischer Diakon in Berlin-Tempelhof. Er wünscht sich Reformen für seine Kirche.

Auf dem Höhepunkt seiner Predigt hebt Thomas Markgraff-Kosch die Fäuste, er schreit ins Mikrofon, aus den Lautsprecherboxen dröhnt die Bedeutung des letzten Abendmahls von Jesus Christus vor seiner Kreuzigung. Die Gläubigen in den Bänken der Kirche Herz Jesu in Tempelhof hören mit großem Abstand zueinander zu. Es herrscht Pandemie, der Zugang zu den Gottesdiensten ist streng reglementiert, auch bei der Abendmesse am Gründonnerstag, bei der Markgraff-Kosch auch aus dem Johannes-Evangelium gelesen hatte, viel ruhiger als bei der Predigt.

Der katholische Diakon weiß schon, wie er seine tiefe Stimme so einsetzt, dass man ihm zuhört. Er ist ein engagierter Diener seiner Kirche. Es ist der gleiche Mann, der sagt: „Ich war zehn Jahre lang überzeugter Kommunist.“ Damals betrachtete er die „Kirche nur als Kulturgut“, seine Hingabe galt der „Sozialistischen Einheitspartei Westberlins“ (SEW), einem West-Ableger der SED, die in der DDR die Politik bestimmte. Für Markgraff-Kosch war der Staatssozialismus der DDR „jenes System, das man auch im Westen hätte einführen sollen“. Die Mauertoten? „Habe ich verdrängt.“

Der 65-Jährige sitzt im Pfarrhaus der Kirchengemeinde Herz Jesu und St. Judas Thaddäus, ein 65-Jähriger, dessen Rücken schon leicht gekrümmt ist. Sein Weg vom Katholiken zum Kommunisten und schließlich zum Diakon führte zunächst über Ohrfeigen. Der Jugendliche Thomas, Ministrant in der katholischen Gemeinde St. Canisius, hatte seinem Pfarrer Fragen gestellt, aus Sicht des Priesters die falschen. Jedes Mal gab’s als Antwort eine Backpfeife. Eine der Fragen lautete: „Stammen wir vom Primat der Affen ab?“

Nach der dritte Ohrfeige hatte Markgraff genug. Er absolvierte kurz darauf in West-Berlin bei der Reichsbahn eine Ausbildung zum Dieselbetriebsfahrzeug-Schlosser, und weil die Reichsbahn unter DDR-Verwaltung stand – auch in West-Berlin – stieß er zur SEW. Er war 15 Jahre alt.

Er war 25, als er die Partei verließ. Seine Freundin saß wegen angeblicher Fluchthilfe vier Wochen in DDR-Untersuchungshaft, dann war klar: Sie ist unschuldig. Aber ihr Freund hatte nun eine andere Sicht auf Mauertote, auf die DDR insgesamt. Kirche freilich war für ihn trotzdem unverändert „Kulturgut“. Das änderte sich, als er mit seiner sehr frommen Freundin zum spanischen Wallfahrtsort Kloster Montserrat fuhr. „Aus einer Laune heraus“ küsste er dort den Reichsapfel, den Jesus, im Schoß der Gottesmutter Maria sitzend, hält. Der Kuss bringt Glück, sagen die Spanier.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Thomas Markgraff brachte er eine Frage, sie tauchte so überfallartig auf wie ein Knall: „Plötzlich hörte ich eine Stimme: Was machst du aus deinem Leben? Es hört sich absolut seltsam an. Aber so war es“, sagt der 65-Jährige. „Ich nehme an, es war Jesus.“

Die Frage „Willst du nicht in unserer Gemeinde mitarbeiten?“, die er später in seiner Wohnung hörte, die kam ganz sicher vom Pfarrer der Gemeinde St. Eduard in Neukölln. Thomas Markgraff hatte inzwischen geheiratet, trug einen Doppelnamen und hatte einen Sohn. Der Pfarrer war gekommen, um die Erstkommunion des Sohn vorzubereiten. Irgendwann sagte dabei Markgraff-Koschs Frau, halb im Spaß, zu dem Pfarrer: „Thomas war übrigens mal Ministrant.“

[350.000 Leute, 1 Newsletter: Die Autorin dieses Textes, Sigrid Kneist, schreibt den Tagesspiegel-Newsletter für Tempelhof-Schöneberg. Den gibt es hier:leute.tagesspiegel.de]

Ihr Mann war nie aus der Kirche ausgetreten, durch seine Frau hatte er sogar wieder zum Glauben gefunden. Also willigte er ein. Jugendarbeit, Pfarrgemeinderat, Vorstandsarbeit im Kirchengemeinderat, Markgraff-Kosch arbeitete immer intensiver mit. 1993 fiel schließlich der entscheidende Satz des Pfarrers: „Lass Dich doch zum Diakon ausbilden.“ Ein Diakon steht eine Stufe unter dem Pfarrer, er assistiert im Gottesdienst, darf unter anderem predigen, das Evangelium verlesen und Religionsunterricht halten.

1995 wird Markgraff-Kosch zum Diakon geweiht und 2004 in die Gemeinde Herz Jesu und St. Judas Thaddäus versetzt. Diese hat einen Mann erhalten, der kritische Distanz zur katholischen Lehre hält, ohne sie ganz in Frage zu stellen. Der Diakon arbeitet viel mit Jugendlichen, er hört ihre Ideen und ihre Kritik an der katholischen Kirche, und er steht hinter ihnen. „Die Kirche braucht Reformen“, sagt er.

Warum, fragt er im Pfarrhaus, „sind wir als Kirche nicht in der Lage, homosexuelle eingetragene Lebenspartnerschaften zu segnen? Segnung bedeutet: Gott begleitet dich. Warum sollen wir diesen Menschen keine Brücke bauen?“

Er fragt, warum Frauen nicht zur Diakonin geweiht werden dürfen

Für Markgraff-Kosch gibt es letztlich nur eine Instanz, die gültig über alles entscheidet, wenn es strittige Positionen gibt. „Ich sage: Wie würde Jesus darüber denken.“ Und dann die Frauenfrage. Warum, bitte, dürfen keine Frauen zur Diakonin geweiht werden? Der Diakon Markgraff-Kosch schüttelt bei dieser Frage, kaum erkennbar, den Kopf. „Im Urchristentum, vor vielen Jahrhunderten, gab es ein Frauendiakonat“, warum jetzt nicht? „Ich hätte damit keine Probleme.“

Probleme, zumindest Skepsis, spürt er allerdings bei der Frage, ob Frauen auch Priesterinnen werden dürfen. Eine Forderung, die schon lange besteht, die Bewegung Maria 2.0. treibt die Diskussion um mehr Frauenrechte in der katholischen Kirche massiv voran. Jesus hatte nur Männer als Jünger um sich versammelt, das ist die offizielle Begründung der Kirche, dass nur Männer Priester werden dürfen. Markgraff-Kosch würde sie aber zumindest „zur Diskussion stellen“. 15 Mitglieder hat seine Ministrantengruppe, die Hälfte davon sind Mädchen.

Die Missbrauchsfälle wühlen ihn auf

Aber das drängendere, aufwühlendere, schmerzhaftere Thema sind für ihn die Missbrauchsfälle der katholischen Kirche, ihre Vertuschung, um das Ansehen der Kirche zu schützen, das Leid vieler Opfer, das weniger zählte als das Image der Institution Kirche. Die Enthüllungen treffen Markgraff-Kosch ins Mark. „Große Tragik“, „sehr schmerzhafter Prozess“ nennt er die Fälle, es sind Begriffe, die inzwischen routiniert klingen, aber sie geben nur unzureichend wieder, wie sehr der Diakon unter dem Leid der Opfer leidet.

Er wird ja immer wieder auf die Fälle angesprochen, natürlich auch in der eigenen Familie. Er steht dann da, ratlos, verstört. „Ich habe ja keine Gegenargumente.“ Er kann natürlich auf die exzellente Jugendarbeit vieler Kirchenmitarbeiter verweisen, aber Statistik, das weiß er selber, ist keine Antwort auf die quälenden Fragen. „Die Täter haben uns den Weg verbaut“, sagt Markgraff-Kosch.

Er kennt die Basis, er hört die 18-jährigen Frauen, die sagen: „Wenn die Kirche so weitermacht, ist das nicht mehr mein Ding.“ Es sind Stimmen, die Markgraff-Kosch am liebsten über sein Mikrofon verbreiten würde. „Man muss der Jugend mal zuhören“, sagt er. Er hört zu, aber er sagt auch seufzend: „Ich allein werde die Erosion nicht aufhalten können.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false