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Die 14-jährige Asylbewerberin Ramiza, eine Roma aus Serbien, die abgeschoben werden soll.

© Kai-Uwe Heinrich TSP

Eine Romni, verloren zwischen Serbien und Berlin: Ramizas geraubte Kindheit im Nirgendwo

Ramiza kam vor 14 Jahren in Berlin zur Welt. Doch als Romni mit serbischen Eltern musste sie das Land verlassen. Dann konnte sie zurück. Jetzt bangt sie wieder

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Sie weiß nicht, wie diese Stadt heißt, in der sie sechs Jahre lang lebte. Und auch nicht, wie man die Sprache nennt, die die meisten Menschen dort in den Geschäften und im Fernsehen sprechen. „Diese Sprache, die meine Oma kann“, sagt die 14-Jährige und meint Serbisch. Ramiza jedoch unterhielt sich mit der Großmutter in ihrer eigenen: Romanes, der Sprache der Roma. Bilderbücher gab es nicht. Weder in der einen noch der anderen. In die Schule durfte sie nicht. Sechs Jahre ihrer Kindheit - die gesamte Grundschulzeit - verbrachte Ramiza in einer Art Vakuum. Irgendwo in Serbien, nicht weit von Belgrad entfernt.

„Ich wusste immer, wir gehen bald wieder weg, zurück nach Berlin. Damit ich hier zur Schule gehen kann“, sagt Ramiza und zieht eine dicke Strähne ihrer langen Locken immer wieder durch ihre halb geschlossene Hand. Sie sitzt in einem Café an der Potsdamer Straße, vor sich eine heiße Schokolade mit Sahne, die langsam kalt wird. Seit zwei Jahren lebt sie nun wieder hier, in dieser Stadt, in der sie geboren wurde, in den Kindergarten ging, aus der man sie vertrieben hat und nach der sie sich in jener anderen Stadt, der ohne Namen, zurücksehnte. 2010, als sie zwölf Jahre alt war, kurz nachdem die Visumspflicht für Bürger der EU-Beitrittskandidaten Serbien und Mazedonien aufgehoben wurde, stieg sie mit ihrer Großmutter in einen Bus nach Deutschland - ins „normale“ Leben, wie Ramiza das nennt.

Es ist ein Leben in einem kleinen Doppelzimmer im Wohnheim für Asylbewerber. An der Tür müssen Besucher ihren Ausweis vorzeigen und dürfen nicht länger als bis 22 Uhr bleiben. Ein Leben, das von den Entscheidungen der Ausländerbehörde bestimmt wird. Ein Leben, das so eigentlich längst zu Ende sein sollte: Der Asylantrag ist abgelehnt, die rechtlichen Möglichkeiten sind ausgeschöpft.

Es sind mal wieder unsichere Tage für die 14-Jährige. Während sie im Café sitzt, wartet ihre Großmutter bei der Ausländerbehörde auf ein Gespräch mit der zuständigen Sachbearbeiterin, in der Hoffnung, dass sie nicht sofort ausgewiesen werden, sondern einen neuen Stempel auf ihre „Grenzübertrittsbescheinigung“ bekommt, ein Dokument, das eigentlich zu nichts anderem als zur Ausreise berechtigt. Wenn Ramiza und ihre Großmutter Pech haben, werden sie heute schon in ein Flugzeug nach Belgrad gesetzt. Ausgerechnet am heutigen Mittwoch, an dem in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas feierlich eingeweiht wird - nicht weit entfernt von dem Café an der Potsdamer Straße und Ramizas Wohnheim.

Vielleicht werden Oma und Enkelin aber auch erst am Donnerstag abgeschoben, wenn die EU-Innenminister darüber beraten, ob die Visafreiheit für Serben und Mazedonier wieder ausgesetzt werden soll. Dieser Schritt wird wegen der Roma erwogen, die das Land in Richtung Westen verlassen. Vor kurzem haben sich sechs europäische Innenminister, darunter auch Hans-Peter Friedrich (CSU), in Brüssel beschwert: „Der zunehmende Asylmissbrauch ist nicht akzeptabel. Der massive Zustrom serbischer und mazedonischer Staatsangehöriger muss unverzüglich gestoppt werden. Dazu muss es möglich sein, dass die EU die Visumfreiheit für diese Länder schnellstmöglich aussetzt“, sagt Friedrich.

Tatsächlich hat sich die Zahl der Anträge erhöht. Von Januar bis August haben 2749 Serben und 1567 Mazedonier einen Asylantrag gestellt. Das seien „ganz überwiegend Angehörige des Volkes der Roma“, so das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. „Diese Asylanträge sind nahezu ausschließlich ohne Aussicht auf Erfolg, die Anerkennungsquote geht gegen null. Aus diesem Grund wird von Asylmissbrauch gesprochen“, sagt ein Sprecher des Innenministeriums. Deshalb sollen Asylanträge von Roma aus Serbien und Mazedonien von jetzt an im Eilverfahren entschieden werden: „Anhörung möglichst am Tag der Antragstellung, spätestens am nächsten/ übernächsten Tag. Zudem zeitnahe Entscheidung und Zustellung, d.h. möglichst binnen einer Woche“ - so formuliert es das Bundesamt.

Friedrich ist nicht der einzige deutsche Politiker, dem die Roma aus Mazedonien, Serbien und dem Kosovo ein Ärgernis sind. Vielen Politikern geht es so - auch mit den Roma aus Bulgarien und Rumänien. Doch diese Länder gehören zur EU. Die Roma von dort können kommen und bleiben, ohne Asylanträge zu stellen.

Die äußerst zierliche, eher stille Martina Mauer ist aufgebracht. Die Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats Berlin sitzt neben Ramiza und sagt: „Das Asylrecht für eine bestimmte Gruppe wird empfindlich beschnitten. Und in Serbien und Mazedonien werden die Roma zu Sündenböcken, das schürt den Rassismus.“ Bald soll es dort unter Strafe gestellt werden, Asylanträge im Ausland zu stellen.

Aber auch für Deutschland sei das Vorgehen gefährlich: „Es ist ein Rückschritt in der Asylpolitik, der an jene Zeit Anfang der Neunziger erinnert, als die Asylbewerberheime brannten.“ Auch damals hatten Politiker vor einem Ansturm von Roma gewarnt, aus Rumänien und Bulgarien, die noch nicht zur EU gehörten.

„Bei der Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma werden Politiker viele feierliche Reden schwingen, und gleichzeitig geht die Bundesregierung gegen die Roma vor“, sagt Martina Mauer. „Sie vergisst, dass sich aus der Vergangenheit eine Verantwortung für die Gegenwart ergibt. Gerade für Deutschland.“ Auch in Serbien habe es im Zweiten Weltkrieg Konzentrationslager gegeben, in denen Roma gefoltert und getötet worden seien. Ihrer Meinung nach hätten fast alle Asylsuchenden aus Serbien Vorfahren, die dort gestorben seien - auch wenn sie das oft selbst gar nicht wüssten.

Um auf all das aufmerksam zu machen, hat Martina Mauer Ramiza unter vielen ähnlichen Schicksalen in Berlin ausgesucht und sie an diesem Vormittag ins Café begleitet, weil ihre Geschichte die Misere der Roma, ihre Odysseen zwischen Ost und West so gut illustriert. Wie sie werden viele Roma in Europa von Regierungen nach Belieben hin und hergeschoben. Auch in ihren Heimatländern.

Im April griffen Serben Roma in Belgrad an, als die Stadt Wohncontainer in einem Vorort aufstellte.

Die EU-Kommission gegen Rassismus und Intoleranz stellte gerade fest, dass Roma in allen Staaten auf dem Balkan kaum Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Arbeitslosenquoten von bis zu 70 Prozent sind die Regel. Wenn Romakinder überhaupt zur Schule gehen, dann oft in Sonderschulen. Mehr als die Hälfte aller 450 000 serbischen Roma leben in unsicheren Verhältnissen: in Bretter- oder Wellblechhütten. Viele haben weder Zugang zu Trinkwasser noch zur Kanalisation. Förderprogramme für Roma hätten die Bedingungen für Schulanmeldungen und -besuch sowie ärztliche Behandlung nur ein bisschen verbessert, heißt es in einem anderen Bericht an die EU. Und Amnesty International teilte gerade mit, man sei „besorgt, dass die Gelder der EU dazu missbraucht werden, Roma-Familien in ghettoartigen Siedlungen unterzubringen“, weit entfernt von den Stadtzentren. Schon jetzt leben Roma meist unter sich.

„Ich habe da nie mit Leuten geredet, die die andere Sprache gesprochen haben“, sagt Ramiza über ihre Zeit in der namenlosen Stadt. „Außer in Geschäften, wenn meine Oma mir noch mal gesagt hat, was Brot oder Milch in der anderen Sprache heißt.“ Ihre Großmutter, selbst Analphabetin, hatte es nicht geschafft, sie in der Schule anzumelden. Das könnten nur die Eltern, habe es geheißen. Dass sie in Deutschland das Sorgerecht für ihre Enkelin bekommen hatte, habe die Behörden nicht interessiert. Ebenso wenig, dass die Mutter unmittelbar nach Ramizas Geburt in der Berliner Charité verschwunden war, der Vater mit einer neuen Frau zusammenlebte, nichts mit seiner Tochter zu tun haben wollte.

Oma und Enkelin waren auf sich gestellt. 2004 waren sie auf Druck der Berliner Ausländerbehörden „freiwillig“ zurückgekehrt. Erst nach etwa zwei Jahren habe die Großmutter eine kleine Unterstützung vom Staat erhalten. Zunächst hatten sie nicht einmal eine eigene Wohnung, schliefen mal hier, mal dort, liehen sich Geld von Verwandten.

Zwar wirkt Ramiza auf den ersten Blick wie ein aufgeweckter Teenager an der Schwelle zur Frau. Aber in vielem ist sie auf dem Stand einer Achtjährigen. Die Zeit im Vakuum der Stadt ohne Namen hat Spuren hinterlassen. Seit zwei Jahren lernt sie endlich lesen und schreiben, in einer „internationalen Willkommensklasse“ mit Kindern aus Jordanien, Griechenland und Rumänien: „Vor allem der Deutschunterricht macht mir Spaß. Als ich hier in die Schule kam, konnte ich zwar noch Deutsch verstehen, aber nicht antworten. Wir lernen gerade Akkusativ und Dativ.“ Ramiza spricht die deutschen Wörter akzentfrei aus. Ihr fehlen noch das Gespür für die richtige Grammatik und ein größerer Wortschatz.

Gerade liest sie unter Anleitung ihres Nachhilfelehrers ihr erstes Buch - ein Kinderbuch: „Angelina Ballerina. Angelinas großer Traum“, über eine Maus, die Spitzentanz lernen will. Altersempfehlung ab drei Jahre. „Das macht nichts, dass das für Jüngere ist“, sagt sie fröhlich. „Ich mag das Buch gern.“

Und dann erzählt sie, dass sie ein bisschen traurig ist, weil sie die Barbiepuppen nicht mitnehmen konnte, mit denen sie in Serbien so gern gespielt hat - als sie so etwas wie Schule noch gar nicht kannte.

An den Barbiepuppen könnte sie schon mal ihren Wunschberuf üben: Friseurin. Beruf, das ist auch so etwas, das nur etwas mit ihrem Leben in Berlin zu tun hat: „In Serbien gibt es keine Berufe, glaube ich“, sagt sie. Auf jeden Fall hat sie dort nie jemanden getroffen, der so etwas hatte. In Berlin hat sie aber gelernt, dass man sich „besser fühlt, wenn man Geld fürs Arbeiten bekommt und nicht einfach so“.

Am Sonntag war sie mit Martina Mauer und anderen Mitarbeitern des Flüchtlingsrats im Grips-Theater, bei einem Stück über eine junge Romni, die in der NS-Zeit ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurde. Nach dem Stück gingen sie auf die Bühne und haben Ramizas Geschichte vorgestellt. Ramiza hat zwar nicht wirklich verstanden, was das Mädchen im Theaterstück mit ihr zu tun haben sollte. Aber sie versteht, dass es etwas Schlimmes sein muss. Auf einmal sieht sie gar nicht mehr so fröhlich aus, sie lehnt sich zurück, verschränkt die Arme.

Sie weiß nichts von den Roma, die in Konzentrationslagern gestorben sind, von europäischer Asylpolitik und Ausgrenzung. „Es gibt bei vielen Roma kein Bewusstsein dafür, dass sie diskriminiert werden. Sie wissen nur, dass es ihnen schlecht geht in dem Land, aus dem sie kommen. Das macht oft bei Asylanträgen Probleme und sie bekommen eine Standardablehnung“, erklärt Martina Mauer.

Ramiza guckt bei solchen Sätzen etwas ratlos in die Gegend. Dann sagt sie: „Ich will doch einfach nur hier bleiben und meinen Schulabschluss machen. Irgendwie muss das einfach klappen.“

Gestern habe ihre Mitschüler aus der 7e einen Brief an den Berliner Innensenator Frank Henkel abgegeben: „Wir bitten Sie, dass Ramiza bleiben darf. Wir wären alle sehr traurig und entsetzt, wenn sie gezwungen wird zu gehen. Sie würde uns sehr fehlen.“

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