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Ein Einhorn namens Philipp hat die Wahl.

© REUTERS/Fabrizio Bensch

Einhörner statt Schlangen: Besondere Berliner Verhältnisse am Wahltag

Wenig Andrang, hier und da ein bisschen Ärger, aber auch für internationale Wahlbeobachter wenig zu meckern: Eindrücke vom Wiederholungswahltag.

Einhörner waren nun wirklich das Allerletzte, was an diesem seltsamen Wiederholungswahlsonntag zu erwarten war. Schließlich entstammen sie einer Welt, die ein bisschen zu schön ist, um wahr zu sein, also irgendwie das Gegenteil von Berlin, wo mitten im Winter - fliegen Einhörner eigentlich in den Süden? – die Leute wieder an die Urnen gerufen worden waren, auf dass diesmal etwas Gerichtsfestes dabei herauskomme.

So begab es sich also an diesem Sonntagvormittag, dass in Friedrichshain zwei Einhörner erschienen – und zwar nicht irgendwem, sondern eben der Franziska Giffey (SPD), der die Wahlwerber trotzig „weil sie es kann“ neben das eckige SPD-Herz auf die Plakate geschrieben haben und die gern Regierende Bürgermeisterin bleiben würde nach dem ganzen Schlamassel mit der für ungültig befundenen Wahl („for the first time in German history“, wie selbst Zeitungen in den USA berichten).

Die Einhörner stellen sich als Philipp und Alexandrine vor und erweisen sich als, nun ja, gefundenes Fressen für die Fotografen, die auf Giffey bei der Stimmabgabe warten. Die Regierende erscheint erwartungsgemäß gut gelaunt und schüttelt den Einhörnern – Philipp dominierend lila, Alexandrine eher regenbogenfarbig, einer flauschiger als die andere – die Hand. Anjenehm! Sie hätten sich extra für die Wahl verzaubert, berichten die beiden. Und Giffey fasst die Lage in dem Satz zusammen: „Jetzt gehn wa wählen und dann werden wa mal sehen.“ Werden wir. Giffey jedenfalls wirkt sehr entspannt dafür, dass es hier auch und insbesondere um ihren Job geht.

Ungefähr zur selben Zeit ist auch der nimmermüde Landeswahlleiter Stephan Bröchler schon wieder im Radio zu hören mit dem Hinweis, dass es die hundertprozentig perfekte Wahl nicht geben könne, aber natürlich eine deutlich solidere als die vom September 2021. Nach der Diagnose des Forsa-Chefs wenige Tage vor der Wahl, wonach viele Berliner:innen das politische Angebot und Personal mehr oder minder „als Zumutung“ empfänden, scheint es nicht abwegig, dass ein paar Leute auch Bröchler zuliebe noch mal wählen gehen. Oder einfach, um zu sehen, ob’s diesmal klappt.

Solange der Hund unter der Tischplatte bleibt, ist die Wahl geheim.
Solange der Hund unter der Tischplatte bleibt, ist die Wahl geheim.

© REUTERS/MICHELE TANTUSSI

Der Kontrast zur Premiere vor eineinhalb Jahren könnte an vielen Stellen kaum größer sein: Die wahlsonntägliche Völkerwanderung durch den Kiez findet zum ersten Mal seit Werweißwann in Wintersachen statt, die sich angesichts des plötzlich mild gewordenen Wetters prompt als zu dick erweisen. Nicht auszudenken, wenn an diesem Sonntag Blitzeis gewesen wäre oder Schneesturm wie vor genau zwei Jahren! Es wäre doch sicher mandatsrelevant, wenn nur Leute mit Auto und Standheizung es zum Wahllokal schaffen würden.

Nicht auszudenken, wenn an diesem Sonntag Blitzeis gewesen wäre

Immerhin konnten sie sicher sein, dort nicht in der Kälte stehen zu müssen. Die Ossietzky-Schule in Pankow beispielsweise gehörte im September 2021 zu jenen mit den längsten Schlangen. Die reichten damals bis in die Florastraße. Und jetzt? Gähnende Leere um die Mittagszeit. Aber kein Grund zum Verdruss für Wahlhelferin Jenny Kurz, die von einem „stetigen und sehr guten Fluss mit hoher Beteiligung“ berichtet, aber auch von vielen vorab eingegangenen Briefwahlstimmen.

Die offizielle Mittagsmeldung der Landeswahlleitung weckt einerseits Zweifel an diesem Optimismus: 342.404 bis 12 Uhr abgegebene Stimmen sind einerseits 109.191 weniger als bei den Wahlen im Jahr 2016. Andererseits seien die Zahlen nur „bedingt aussagekräftig, da hierbei die Anzahl der ausgestellten Wahlscheine nicht berücksichtigt“ werde. Diese einbezogen, ergebe sich aktuell eine Wahlbeteiligung von 23,4 Prozent – 2016 waren es zu diesem Zeitpunkt 25,1 Prozent. Die Spanne zwischen den Bezirken reicht an diesem Sonntagmittag von 25,7 Prozent in Steglitz-Zehlendorf bis zu 20,3 Prozent in Mitte.

Drinnen nur Tönnchen. In manchen Wahllokalen gab es ungewöhnliche Urnen.
Drinnen nur Tönnchen. In manchen Wahllokalen gab es ungewöhnliche Urnen.

© REUTERS/Fabrizio Bensch

Ohne den Pragmatismus von Menschen wie Marcel Schröter wäre die Beteiligung wohl noch geringer: Schröter ist Wahlvorstand im Emmy-Noether-Gymnasium in Köpenick. Wegen des seit Monaten kaputten Fahrstuhls ist das Wahllokal in dem 70er-Jahre-Plattenbau im Allende-Viertel nun doch nicht barrierefrei – und damit für Menschen wie Rosalinde Mühlfriedel unerreichbar. „Aufzug außer Betrieb“, verkündet ein Schild der 91-Jährigen, nachdem sie mit ihrem Rollator über den maroden Asphalt des Schulhofs gerumpelt ist.

„Aufzug außer Betrieb“ – der Wahlvorsteher bringt der 91-Jährigen die Wahlzettel

Wahlvorsteher Schröter bringt der Seniorin die Wahlzettel raus, nachdem er Wahlberechtigung und Personalausweis geprüft hat. Frau Mühlfriedel macht ihre Kreuze auf der Ablage ihres Rollators, Schröter wirft die Zettel unter Zeugen in die Urne. „Das ist unsere einzige Chance“, sagt er. Immerhin sei dieser Fall erst der zweite an diesem Tag. Die andere Person sei eine Rollstuhlfahrerin gewesen. Bei der habe der Ehemann überwacht, dass die Stimmzettel ihren Weg in die Urne finden.

Empört ist dagegen ein Wähler in Charlottenburg: „15 Minuten Fußweg, Wahllokal im Hinterhof, 2. Etage, nicht barrierefrei“, berichtet er. „Und da war keiner, dem du hättest Bescheid geben können.“ Zur Wahrheit gehört auch, dass auf der Wahlbenachrichtigung auf die mangelnde Barrierefreiheit deutlich hingewiesen wurde, aber das Fazit des Charlottenburgers lautet: „Das Wahldrama geht weiter.“

Lob von den Wahlbeobachtern des Europarats

Der Berliner Wahlforscher Thorsten Faas dagegen mahnt, Komplikationen nicht vorschnell zu bewerten und nicht alles zu skandalisierien. „Bisschen locker bleiben“, lautet sein Rat, den er mit der Klarstellung verbindet: „Jeder Fehler sollte ernst genommen werden. Es geht nicht darum, die Augen zuzudrücken.“ Daran, dass Probleme diesmal minutiös dokumentiert würden, bestehe kein Zweifel.

Zu den Dingen, über die noch zu reden sein könnte, gehört das Hertha-Heimspiel im Olympiastadion an diesem Sonntag, das zwar keine Verkehrsprobleme wie der an jenem legendären Wahlschlammasseltag stattgefundene Berlin-Marathon nach sich zieht, aber zumindest die Parkplatzsuche in weitem Umkreis zum Scheitern verurteilt. Hertha selbst hat die Fans vorab aufgefordert, wählen zu gehen.

Lob gibt es von den Wahlbeobachtern des Europarates. „Der Gesamteindruck ist, dass alles wirklich gut läuft“, sagt Vladimir Prebilic, der die zehnköpfige Delegation leitet, am Nachmittag. „Die Dinge sind wirklich gut organisiert, muss ich sagen.“

In manchen Lokalen, beispielsweise in der Grünauer Gemeinschaftsschule und in der Werbellinsee-Grundschule in Schöneberg, dürfen die Wählenden ihre Kreuze sogar zweimal machen: In Grünau für die ARD, in Schöneberg fürs ZDF, genauer: Für Brigitte Jauer für die Forschungsgruppe Wahlen, die im Auftrag des ZDF hier jeden dritten Wähler anspricht, der im Wahllokal 121 seine Stimme abgeben hat. Der Betreffende kreuzt noch mal die Partei an, für die er gerade votiert hat. Auf diesen Daten basieren die Prognosen, die ab 18 Uhr veröffentlicht werden. Bis 12.30 Uhr hat Brigitte Jauer rund 200 Wähler befragt. Nur drei oder vier hätten bis dahin abgelehnt. Einer sei sogar besonders engagiert gewesen und habe ihr demonstrativ sein Kreuz gezeigt – bei der AfD.

Läuft bei ihm. Berichte über größere Pannen gab es nicht.
Läuft bei ihm. Berichte über größere Pannen gab es nicht.

© dpa/Monika Skolimowska

Mit wem man auch redet an diesem Wiederholungswahltag: Alle berichten von der freundlichen und entspannten Stimmung im Wahllokal. Kein Wunder bei mehr Wahlkabinen, weniger Kreuzen (weil diesmal weder Bundestagswahl noch Volksentscheid anstehen) und weniger Andrang. Dorothea Köhler, Wahlhelferin im Wahllokal 313 in Mitte, freut sich über drei Stunden Mittagspause. Man sei zu siebt und habe nun auch genug zu tun, die Stimmung sei bestens. Den ruhigen Morgen habe das Team bei Anekdoten aus dem Wahlhelfer:innenleben verbracht.

Am 26. März wird wieder abgestimmt – über den Klima-Volksentscheid

An diesem Sonntag kommen neue Anekdoten hinzu. Wie jene in einem Schöneberger Wahllokal, in dem eine ausnehmend freundliche Wahlhelferin die Kundschaft mit den Worten: „Na, dann bis in ein paar Wochen!“ verabschiedet. Auf die erschrockene Gegenfrage eines Wählers, ob „wir dann schon wieder wählen sollen“, antwortet sie gut gelaunt: „Na klar: Klima-Volksentscheid!“ Über den soll am 26. März abgestimmt werden.

Wenn man dabei Leute trifft wie Karl-Heinz Goldschmidt, kommt man ohnehin gern wieder: Der 56-Jährige ist Hausmeister der Adolf-Glaßbrenner-Schule in Kreuzberg und steht bereit, falls am Wahltag eine Toilette verstopft ist oder zusätzliche Wahlkabinen gebraucht werden. Zwischendurch weist er Wähler:innen den Weg übers weitläufige Schulgelände, auf dem man sich 2021 wahrlich nicht verlaufen konnte: Damals habe er um 18 Uhr die Schulpforten geschlossen, berichtet Goldschmidt. Zwei Stunden habe es danach gedauert, bis der Stau abgearbeitet war. Kein Vergleich zu heute.

Das kann Mads Pankow bestätigen, dessen Kinder auf dem Schulhof ihre Runden übers Klettergerüst drehen. Was an diesem Sonntag eine Stippvisite ist, war 2021 eine Odyssee. „Damals war ich auch mit den Kindern hier. Kurz Brötchen fürs Frühstück holen und dabei wählen, das war die Idee. Daraus ist dann leider ein Mittagessen geworden.“ Mehrere Stunden habe er zum Wählen angestanden, sagt Pankow. Doch er erinnert sich auch an die Solidarität: In der Warteschlange wurden Zeitungen für den Zeitvertreib durchgereicht, Leute, die es eilig hatten, wurden vorgelassen. „Direkt vor mir war eine Krankenschwester, die musste zum Dienst.“ Jetzt genießt er seinen vorsorglich mitgebrachten Kaffee, während er mit Nachbarn auf der Bank am Spielplatz sitzt. Acht Grad im Februar – das passt.

Ähnlich gemütlich geht es nebenan in der Charlotte-Salomon-Grundschule zu, die vier Wahllokale beherbergt. Antonio Duvinage kennt die Schlangen von 2021 hier nur vom Hörensagen: Er habe damals Briefwahl beantragt, doch die Unterlagen habe er nie erhalten. Also sei er persönlich ins Rathaus gegangen: „Wählen, das sollte man schon machen.“ Heute sei alles sei glattgelaufen, resümiert er und schlendert mit seiner Tochter davon.

Und wie wählt man? „Taktisch“, sagt eine ältere Wählerin im Schöneberger Kulturzentrum „Die weiße Rose“ auf Nachfrage. Und was ist taktisch? „Ich habe mich daran orientiert, ob ich die bestehenden Machtverhältnisse noch will.“ Also anders als 2021? Daran erinnere sie sich nicht mehr. Und dass die Wahl überhaupt wiederholt werden musste, for the first time in German history? „So what“, sagt die Frau. „Das sind halt Berliner Verhältnisse.“

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