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Die Wohnungstür im Hochparterre. Der Rentner, der dort lebte, fiel mutmaßlich einem Raubmord zum Opfer.

© Henning Onken

„Für mich ist es das Todeshaus“: Ein Berliner Treppenhaus, drei vergessene Leichen

Drei Menschen sterben in einem Reinickendorfer Mehrfamilienhaus in ihren Wohnungen. Doch wochen- und monatelang fällt es niemandem auf. Wie kann das sein? Eine Spurensuche.

Stand:

Die neue Wohnung hat eine verborgene Geschichte, das erfuhr Mara Schneider* schon bei der Schlüsselübergabe. „Der Vormieter? – Der ist jetzt sehr, sehr weit weg“, antwortete der Hausmeister auf ihre Frage.

Seltsam, so ein Spruch, dachte sie. Aber ist nicht jedes hundert Jahre alte Mietshaus in Berlin schon für unzählige Menschen ein Zuhause gewesen? Immer tobten Kinder durch die Höfe, zogen Jahre später auf die andere Straßenseite oder in die Ferne. Und mancher wurde am Ende aus seiner Wohnung hinausgetragen. Mara Schneider machte sich keine weiteren Gedanken über den seltsamen Spruch. Zunächst.

Das Haus gehört zur Siedlung Paddenpuhl in Berlin-Reinickendorf, 557 Wohnungen, rund zwei Kilometer nördlich vom Schäfersee. Auf Luftaufnahmen sieht man, wie behutsam zwei Architekten in den Zwanziger- und Dreißigerjahren hier die Ziele des Neuen Bauens umsetzten: mehr Licht, mehr Grün für alle.

Vor neun Jahren ließ die Deutsche Wohnen Fenster und Türen des denkmalgeschützten Ensembles sanieren. Als Geheimtipp bewirbt die Gesellschaft die Siedlung auf ihrer Webseite, schwärmt von Expressionismus im Berliner Norden. Sie lobt bunte Hausecken und „schokoladenbraune Fassaden“.

Das Breitkopfbecken ist Zentrum der Siedlung Paddenpuhl.

© Henning Onken

An einem sonnigen Novembertag ist es ruhig um die Mittagszeit am Breitkopfbecken, wie man den Teich im Zentrum der Siedlung nennt. Viel Himmel zwischen flachen, dreigeschossigen Zeilen. Am leeren Spielplatz fotografieren zwei vom Bezirk bestellte Kiezläufer eine heimlich in die Büsche gestellte Schrottcouch.

Hochparterre, erstes und zweites Geschoss, ein verschlossener Dachboden: Das ist Mara Schneiders Aufgang. Im Treppenhaus liegen die Türen links und rechts, sechs Wohnungen gibt es insgesamt.

Hinter drei der Türen starb während der vergangenen zwölf Jahre ein Mensch – und in jedem dieser Fälle vergingen Wochen oder Monate, bis es jemandem auffiel. Gehört das seit je zum Leben und Sterben der Großstadt? Oder ist hier etwas aus der Bahn geraten?

Mara Schneider, 28 Jahre alt, schlank und sportlich, Lehrerin, ist nicht überrascht, dass sie jemand anspricht und Fragen über die vergessenen Toten in ihrem Haus stellt. Ihr fällt sogar fast sofort eine Anekdote über einen Samstagabend im Oktober ein, an dem sie selbst kurz die Kontrolle über ihr Leben verlor. Ein kleiner Moment, der zeigt, wie wenig es braucht, um über das Schicksal zu entscheiden, wenn man allein lebt.

Flache Zeilen mit viel Grün und Freiräumen. Die Siedlung am Breitkopfbecken.

© Henning Onken

Zwei Kiezläufer kümmern sich um illegalen Müll. Im Hintergrund sind die charakteristischen farbigen Fenstereinrahmungen der Siedlung zu sehen.

© Henning Onken

Sie kam an diesem Tag spät nach Hause vom Tanztraining, ihrer Leidenschaft: hundemüde, aber hungrig. Noch um 22 Uhr legte sie sich tiefgefrorene Kartoffelecken in die Pfanne. Nur kurz aufs Bett legen, während die Kartoffeln auftauen und knackig braun werden, dachte sie. Da fielen ihr die Augen zu. 

Schneider hörte die beiden Feuermelder nicht mehr, die ohrenbetäubend lospiepten, weil die Flamme auf dem Gasherd die Kartoffeln längst schwarz verkohlt hatte. Erst, als es durchdringend an der Tür ihrer 33 Quadratmeter großen Wohnung hämmerte, wachte sie auf. Sie schreckte hoch, um sie herum dichter Qualm.

Sie wirkt noch immer schockiert, wenn sie davon erzählt. Damals habe sie geheult. „Ich hätte allein ersticken können“, sagt sie.

Davon ist Nils Petersen*, ihr Nachbar von oben, überzeugt. „Zum Glück habe ich lange am Computer gezockt und es gehört“, sagt er. Zehn oder zwanzig Minuten lang hätten die Melder bereits angeschlagen. Erst habe er versucht, Mara Schneider anzurufen, aber weil sie nicht reagierte, sei er heruntergegangen und habe gegen ihre Wohnungstür geschlagen und Sturm geklingelt.

War Petersen der einzige Nachbar, der die Rauchmelder hörte? Warum ist niemand von den anderen im Haus oder Block wegen des nervtötenden Geräusches eingeschritten? Wie sehr fühlen sich zufällig zusammengewürfelte Nachbarn einander verpflichtet? Diese Fragen treiben Mara Schneider bis heute um.

Nils Petersen, 32 Jahre alt, arbeitssuchend. Und Mara Schneider, 28, Lehrerin. Das Schicksal hat sie in dasselbe Treppenhaus gewürfelt, doch sie verbindet mehr als nur ein paar Stufen. Beide leben in einer Wohnung, in der zuvor jemand „gelegen“ hat. Ein Mensch, der einsam starb und vergessen wurde über Wochen oder sogar Monate.

„Für mich ist es das Todeshaus“, sagt Petersen. „Mein Vormieter hieß Toth“, sagt Schneider und lacht. „Was für ein Nachname.“

Nils Petersen ist ein freundlicher Gamer mit schädelbetonter Skull-Frisur, etwas blass im Gesicht. Er zieht seinen Kater Leo mehrfach am Schwanz in die Wohnung zurück, während er an der Türschwelle über sein Haus spricht. Auf einem Großbildschirm im Hintergrund kämpft sich ein Twitch-Streamer in einem Ego-Shooter-Spiel durch eine postapokalyptische Welt, in der Maschinen die Menschheit in den Untergrund verbannt haben.

Sechs Türen, sechs Wohnungen

© Henning Onken

Seit elf oder zwölf Jahren wohnt Nils Petersen im zweiten Obergeschoss, das genaue Einzugsdatum fällt ihm nicht mehr ein. Nur die Umstände blieben haften. Wie Mara Schneider zog auch Petersen direkt aus dem Elternhaus in die Wohnung in Reinickendorf. Nicht aus dem Umland, sondern aus dem Märkischen Viertel, wo „Mutti“ die sanierte Wohnung zu teuer wurde. Den Mietvertrag erhielt er, weil er damals noch bei McDonald’s jobbte, vermutet er.

Auch Nils Petersen erfuhr nichts über seinen Vormieter. Eines Tages vertraute ihm sein Nachbar auf der Etage den Grund an, als sei er ein Geheimnis. „Er hat sich totgesoffen“, sagte der Nachbar. Und der Vormieter habe offenbar starke psychische Probleme gehabt. Petersen erschien das plausibel. „Die ganze Tür war mit kyrillischen Schriftzügen zugekritzelt.“

Wie lange seine Leiche damals in der Wohnung lag, ob es Wochen oder Monate waren, und wie man sie damals entdeckte, das weiß Nils Petersen nicht. Er scheint den Nachbarn, der nicht anzutreffen ist, nicht näher befragt zu haben. Warum verschwendet er daran keinen Gedanken?

„Das braucht man nicht“, sagt er. Die Toten im Haus seien eben nur flüchtige Bekannte. Hingegen: „Wenn meine Mutter stirbt, dann bin ich auch depri und hocke einen Monat lang in der Ecke.“

Das Siegel der Polizei, mit dem die Wohnung vor mindestens elf Jahren nach dem Leichenfund gesichert wurde, klebt immer noch an der Wohnungstür von Nils Petersen. „Das geht nicht ab“, sagt er. „Ich war schon mit dem Cuttermesser dabei.“

Kater Leo in der Wohnung von Nils, dessen Vormieter allein und vergessen starb.

© Henning Onken

Nils Petersen kann sich noch daran erinnern, wie der Tote in der Wohnung schräg unter ihm, in die später Mara Scheider zog, gefunden wurde. „Der Mann war ein richtiger Einsiedler, man hat ihn fast nie gesehen. Und auf einmal war er tot.“ Ganze drei Monate lang habe das niemand mitbekommen. „Aber da war dieser Geruch.“

Vielleicht von einem toten Wiesel auf dem Dachboden, dachte er. Auf eine Leiche sei er nicht gekommen, und dass er den Nachbarn schon ewig nicht gesehen hatte, sei ihm auch nicht aufgefallen. Irgendwann habe er den Hausmeister wegen des Verdachts auf ein Wiesel alarmiert. Doch der fand nichts auf dem Dach.

Schließlich fanden sie den Ursprung des Geruchs. Aus einem gemeinsamen Abluftschacht in der Küche zog Verwesungsgeruch aus der Wohnung des Einsiedlers nach oben.

Über die Leiche, die dort in der Wohnung lag, kann Nils Petersen viel erzählen. Über den Menschen, der unter ihm lebte und starb, nichts. Und das, obwohl er eigentlich immer zu Hause ist.

Ermittler sprechen von „Mumien“

Mumien nennen Ermittler Leichen, die allein gestorben sind und skelettiert auf den Seziertischen der Rechtsmedizin enden. Es können Wochen, Monate oder Jahre vergehen, bis diese Toten entdeckt werden.

„Wir sehen solche Fälle fast täglich“, sagte der Rechtsmediziner Philipp Möller dem Tagesspiegel im August. Von insgesamt rund 38.000 Menschen, die jedes Jahr in Berlin sterben, wird in etwa 2400 Fällen die Rechtsmedizin damit beauftragt, die Todesursache zu ermitteln. Bei nur rund fünf Prozent der Obduktionen geht es um Mord oder Totschlag, meistens um einen Unfall, einen Suizid oder Drogenmissbrauch. 

Ein Blick in die Wohnung von Nils Petersen.

© Henning Onken

Wie schnell ein Mensch verwese, der in seiner Wohnung verstorben ist, erklärte Möller weiter, hänge von Temperatur, Feuchtigkeit, Luftzirkulation und vorhandenen Insekten ab. Man könne aber davon ausgehen, dass den Zerfall nach einer Woche starke Gerüche begleiteten.

Als Mara Schneider die Vorgeschichte ihrer Wohnung erfuhr, war sie schockiert. Belastet es sie noch immer? Nein, sagt sie, ihre Wohnung sei kernsaniert worden. Davon, dass dort ein Vierteljahr lang ein Toter lag, sich Maden, Käfer und Fliegen in den Räumen verteilten, „merkt man überhaupt nichts mehr“. Niemals kämen ihr Gedanken über den Vormieter, wenn sie zur Ruhe kommt in ihren 33 Quadratmetern.   

Schneider fühlt sich „sehr sicher und wohl“ in ihrer ersten eigenen Wohnung. Sie genießt das Grün rundherum und manchmal die fast dörfliche Ruhe, fast wie sich die Architekten das Lebensgefühl in der Anlage vorgestellt haben. Auch Nils Petersen denkt nicht daran, seine Wohnung zu verlassen.

Allerdings ärgert er sich über den Wohnungskonzern Vonovia, dem die Häuser der Siedlung Paddenpuhl inzwischen gehören und der die Miete auf jetzt 458 Euro erhöht habe, auch ohne etwas an seiner Wohnung gemacht zu haben. Dennoch werde er darin leben, bis er sterbe, meint er.

Der dritte Tote im Haus war Yves Seigel. Sein Porträt hing im ganzen Kiez an Hauseingängen und Haltestellen. Sieben Nächte lag der fast blinde 50 Jahre alte Mann im Mai tot und unentdeckt in seiner durchwühlten Wohnung. Ein noch immer ungeklärter Raubmord. Wie er ums Leben gekommen ist, dazu sagt die Polizei nichts, Ermittlungstaktik.

An der Tür im Parterre kleben noch die Reste des Polizeisiegels, genau wie bei Nils Petersen zwei Etagen höher. „Ich habe mal wieder das Panzertape geholt und meine ganze Tür von innen versiegelt“, erzählt Petersen über den Tag, als Seigels Wohnung mit offenen Türen und Fenstern gereinigt wird. „Es hat gestunken wie sonst was.“ Den ganzen Tag ging er nicht aus dem Haus.

Viele Berliner leben allein

Ein Haus, in dem gleich drei Menschen monatelang unentdeckt tot in ihrer Wohnung lagen. Wenn man versuchen will, das zu verstehen, hilft ein Blick auf die Statistik: Rund ein Drittel der Berliner lebt allein, der Anteil an Single-Haushalten beträgt in Reinickendorf gute 51 Prozent. Und wer allein lebt und niemanden hat, läuft Gefahr, unbemerkt zu sterben.

Das Siegel an der Tür von Yves Seigel ist aufgebrochen.

© Henning Onken

Die sechs Wohnungen in dem Haus in der Siedlung Paddenpuhl sind ihren Bewohnerinnen und Bewohnern zufolge dreimal 33 Quadratmeter oder 40 Quadratmeter groß – und damit ideal für Singles. Viele Menschen in dieser im bezirklichen „Planungsraum Breitkopfbecken“ als einfach eingestuften Wohnlage haben es nicht leicht: hohe Kinder- und Altersarmut, viele Transfergeldempfänger, fast jeder Zweite hat eine Migrationsgeschichte.

Nicht alle fühlen sich in dem Viertel so wohl wie Nils Petersen und Mara Schneider. Andere Nachbarn beobachten frustriert eine anwachsende Drogenszene, die vom nahen Leopoldplatz in Richtung Norden verdrängt wird. Der Junkies wegen habe man Bänke am Teich abgebaut und Bäume radikal zurückgeschnitten, berichten Passanten am Breitkopfbecken.

Viele gängige Thesen zur Individualisierung und Vereinsamung in der urbanen Gesellschaft schwingen mit über die Menschen in dem Haus in der Siedlung Paddenpuhl, doch sie können nicht alles erklären: Es gibt einen Toten, der offenbar so unsichtbar war, dass niemand etwas über ihn zu wissen scheint. Einen weiteren, der wohl psychisch krank war. Und dann sind da noch Yves Seigel und der Raubmord.

Dem sehbehinderten Mann gelang etwas, das viele nicht schaffen: Er ging nicht schweigend durchs Treppenhaus, wich keiner Begegnung aus. Das sagt Nils Petersen über ihn. Er sei bekannt gewesen im Kiez, schreiben die Ermittler. Am Ende öffnete er seine Wohnungstür vielleicht für den Falschen, wurde ausgeraubt und ermordet. Die sieben Nächte, die er dort tot und unentdeckt lag, sind der Polizei zufolge nicht ungewöhnlich.

Drei Tote, drei Schicksale, mitten in der Großstadt. Ein stilles Nebeneinander, zufällig und doch mit Gemeinsamkeiten.

Aus einer der drei größeren Wohnungen, obwohl sie mit 40 Quadratmetern nicht unbedingt für Familien geeignet ist, dringen seit einiger Zeit auch die Geräusche eines Babys. Ein Paar hat Nachwuchs bekommen.

*Die Namen wurden zum Schutz der Mieter von der Redaktion geändert.

Redaktion: Annett Heide

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