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Endlich Sonne. Nach 24 Stunden durfte Nik Afanasjew die Ringbahn endlich wieder verlassen.

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Kunstprojekt in Berlin: Geschafft: 24 Stunden in der Ringbahn

Es ist geschafft! 24 Stunden lang saß unserer Autor Nik Afanasjew in der Ringbahn - und hat alles aufgeschrieben. Mit sechs anderen Autoren hatte er sich auf eine Reise begeben - ein Kunstprojekt mit offenem Ausgang. Nun sind sie angekommen. Lesen Sie die ereignisreichen 24 Stunden in unserem Live-Blog nach.

Die meisten Berliner haben wohl schon unfreiwillig Zeit in der S-Bahn verbracht. Wenn sie zu spät war, oder zu langsam oder einfach nicht kam, obwohl sie doch hätte kommen sollen. Berlin und die S-Bahn verbindet eine Hassliebe. Es wird Zeit, das aufzuschreiben. Sieben Autoren sind 24 Stunden im Ring durch die Stadt gefahren. Sie haben geschrieben - aus und über die S-Bahn, über Berlin und die Berliner. Einer der Autoren war Tagesspiegel-Autor Nik Afanasjew. In unserem Blog können Sie die, teils skurrilen, Erlebnisse nachlesen. Beiträge der anderen sechs Autoren und mehr Informationen zum Projekt finden Sie hier.

12.30 Uhr: 24 Stunden in der Ringbahn sind vorbei. In der Zeit hätte man Zeitzonen überwinden können und viele Landesgrenzen. Die sieben Autoren sind stattdessen an ihre eigenen Grenzen gegangen. Nun gibt es einen verdienten Brunch. Die Erkenntnis: 24 Stunden in der Bahn sind zu schaffen. 24 Stunden gute Ideen zu Papier bringen: schon schwieriger. Danke fürs Lesen! Man sieht sich. In der Ringbahn.

11.56 Uhr, Yoki - Teil 6: Je weiter der Zug der Schönhauser Allee entgegen fährt, desto mehr begreift Yoki: Seine Geschichte dreht sich wie die Ringbahn Kreise, ohne jemals zum Mittelkern vorzustoßen. Sie wird keine Auflösung erfahren. Er ist in der Ringbahn eingeschlafen und dabei geblieben. Ciao und Auf Wiedersehen.

11.44 Uhr: Die political correctness geht jetzt vollkommen flöten. Einer der Literaten sagt: "Aleppo heute ist wie Berlin in den 90ern. Da ist viel freier Platz, etwas Neues aufzubauen oder die Häuser zu besetzen, die noch stehen." Kurzes lachen. Dann langes, betretenes Schweigen.

11.35 Uhr: Städtebauliche Besonderheiten Berlins: besonders viele sichtbare Brandmauern. Extrem viele nicht freistehende Kirchen. Kleingärten, überall, auch und gerade in der Innenstadt: Kleingärten. Und, als von einem der Literaten geäußerter Gedanke: "Berlin is the only city in the world, that has an architecture of the void. Important is, what u dont see."

11.17 Uhr: Jetzt pöbelt zum ersten Mal jemand wegen der Kamera, mit der unsere Fahrt aufgenommen wird. Ein sehr besoffener, übelriechender, aggressiv dummer Mensch. Wenn so jemand Gesicht 'gegen Überwachung' zeigt, wird bald sogar dir Antifa für Überwachungsdrohnen demonstrieren

11.08 Uhr: An der Storkower Straße sieht Berlin aus wie ein Vorort von Prag. Überdimensionierte Einkaufszentren, abenteuerlich hässliche Fußgängerübergänge und Plattenbauten, die mit dem ihnen übergestülpten Regenbogen-Gewand nie glücklich geworden sind.

11 Uhr: Nun schlägt die Müdigkeit bei allen 7 Autoren durch. "Ich werde nie wieder schreiben", sagt einer. Autoren neigen halt zum Dramatischen. Statt Ideen entwickeln hier mittlerweile nur die Augenringe mehr Tiefe. Doch die Sonne meint es weiterhin gut.

10.36 Uhr: Das wohltuende Geschrei eines Babies, das nicht angezogen werden will. Sobald der Schneeanzug geschlossen ist, lacht es wieder den ganzen Zug zusammen. Baby, oh Baby.

10.05 Uhr: An der Greifswalder Straße wartet ein Videoverleih (1985) vor einer kargen, riesigen Brandmauer (1945) vergeblich auf Besucher. Was für eine Kombination.

9.55 Uhr: So ein Versorgungsstopp kann sich bei der S-Bahn ganz schön rächen. Die nächste Bahn kommt erst in acht Minuten, dann in zwei und dann wieder in drei. In einer Minute entscheidet sie sich dreimal um. Und es sagt noch nicht einmal jemand "Zorri vor dze inkonwinienz". Die Ringbahn: ein Mysterium durch Raum und Zeit.

9.40 Uhr: Zu Hause ist Scheibenputzen etwa so sinnvoll, wie sich selbst mit Anlauf gegen das Knie zu treten. Aber so eine saubere Bahnscheibe, an einem sonnigen Sonntagmorgen, die ist schon was Feines.

9.34 Uhr: Nie ist es in Berlin so leer und friedlich wie an einem Sonntagmorgen. Wenn der Sonntagmorgen ein Lebewesen wäre, wäre er ein Goldfisch. Sein natürlicher Gegenspieler ist der Samstagabend: der Gorilla.

Die Nacht bis 8:30 Uhr: In der Nacht hat die Leere der übernommen und manchmal auch die Vollen. Es wurde wenig gelacht, aber wenn, dann laut. Finger hauten auf Tastaturtasten, bis dieses Hauen ein konstantes Surren war. Zwischenzeitlich siegte auch der Schlaf, dieser starke Krake. Nun geht es weiter im Tagestakt.

Durchhalten. Nik Afanasjew schreibt sich durch die Nacht.
Durchhalten. Nik Afanasjew schreibt sich durch die Nacht.

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1.25 Uhr, Yoki - Teil 5: Es geschah ganz von alleine, dass Yoki von Passanten Brot oder ein hart gewordenes Stück Pita zugesteckt bekam. Er bettelte nicht - die Menschen zwangen ihm einfach ihr schlechtes Gewissen auf. Nicht sofort, aber mit jedem Tag in der Bahn wurde das Brot mehr und härter. Seine Notdurft verrichtete Yoki mit Hilfe einer Flasche oder in der Nacht, wenn niemand genau hinguckte, aber alle wissend nickten. Einmal traf er ein Mädchen, das ihm bekannt vorkam. "Kennst du mich?", rief er ihr zu. "Ach, du", sagte sie und stieg in Halensee aus. Niemand stieg in Halensee aus. Yoki war versorgt, tiefenentspant, und komplett verloren.

1 Uhr: Eine Gruppe pfälzischer Rentner drängt sich in eine schließende Tür am Hohenzollerndamm. Einer hält auf, die anderen schieben nach. Schreie, Gekicher. Das macht also finanzielle Sicherheit im Alter mit Menschen...? Na dann: Do it, linker Flügel der CDU (genannt: SPD). Go, Nahles, go!

Mitternacht, Yoki - Teil 4: "Viele gute Männer haben in der S-Bahn angefangen", sagte der Weißhaarige und blickte gedankenverloren zum Gasometer. Yoki folgte dessen Blick. Die Ringbahn hielt. Das stählerne Gerippe des Gasometers kam Yoki wie eine Struktur gewordene Gleichung mit vielen Unbekannten vor, wie sein eigener Zustand. Er wusste, dass er Yoki war, etwa ein Vierteljahrhundert alt und in der Ringbahn sitzend. Das waren viele Informationen und doch nicht genug. "Früher bin ich geflogen, von hier bis nach Mannheim", sagte der Weißhaarige, wischte über sein Amulett, den Zahn eines Ebers, und zeigte nach rechts, wo sich die Tempelhofer Freiheit bis in die Hasenheide erstreckte. Erst da erkannte Yogi, dass sie in wenigen Momenten eine ganze Runde gefahren waren. Die Ringbahn musste die Zeit in ihrem Umlauf gefangen halten.

23.11 Uhr: Ein verwegener Rebell steigt ein. Er schreitet zur Mitte des Zuges, führt seine Hand zum Mund, zieht. Er lässt den Dampf aus seinem Mund entweichen, in gleichmäßigen Ringen zieht dieser zur schummrig beleuchteten Decke. Die Girls fliegen total drauf. Der Mann steckt seine Kippe lässig in die Tasche. Geil, so eine E-Zigarette.

22.21 Uhr: Es sind immer weniger Menschen in der Bahn, aber die sind immer lauter. Der Explositions-Quotient pro Person steigt also. Eine gute Währung für die Nachtstadt Berlin.

21.43 Uhr: Nüchtern und schüchtern war vorher. Mädchen mit Sektflaschen steigen zu. Zu jung zum Junggesellenabschied, zu alt für Jugendalkoholismus. Was sie feiern? "Was ist denn das für eine scheiß Frage?"

21.06 Uhr, Yoki - Teil 3: Die Ringbahn hielt im Westend. Yoki schaute an sich herunter, er trug Sandalen zu einer Dreiviertelhose, sein Bart konnte es mit dem von Nobelpreisträgern eines vergangenen Jahrhunderts aufnehmen. 'Ich bin ein Hipster', dachte Yoki und dann: 'Nein, ich kann kein Hipster sein. Für Hipster sind Hipster immer die anderen.' Er versuchte unter größter Anstrengung, sich daran zu erinnern, wo er am Vorabend gewesen ist. Ein überdimensionales Feld, ja, auf so einem Feld war er. Er gab da auch ein Propellerflugzeug. Sonst war da nur Leere. "Willst du auch einen?", fragte ihn plötzlich der Weißhaarige, der ihn vorhin geschlagen hatte. Yoki dachte an Bier und wollte ablehnen. Doch er roch Kaffee und nahm einen Schluck. Bald hatte er ein noch warmes Brötchen in der Hand. Die Bahn zog ihre Runden um Berlin. Yoki hatte keinen Grund zu klagen.

20.40 Uhr: Ein wunderschönes Mädchen steigt zu und gibt sich fasziniert: "Ich bin auch schon mal ganz um den Ring gefahren. Vor zehn Jahren. Mit 15. Da haben wir Ringbahnsaufen gemacht. Damals war das noch cool."

20.27 Uhr, Yoki - Teil 2: Yoki wusste also, dass er sich in der Ringbahn befand, dass er eingeschlafen war und das Bier des Weißhaarigen umgetreten hatte. Sonst wusste er nichts. Es muss eine Party gewesen sein, die ihn so zerstört hatte. Doch welche? Yoki hatte keine Ahnung. Er setzte sich auf einen freien Klappsitz im Fahrradabteil. Es war warm und gemütlich. Draußen verabschiedete sich gerade die Sonne. Yoki beschloss, erst einmal in der Bahn zu bleiben.

20.13 Uhr: Ein junger Mann mit Kappe und Hertha BSC-Handschuhen steigt ein. Er summt konstant und mit wirrem Blick vor sich hin. Säße er im Flugzeug, würde das jetzt notlanden. Das tut dieser Verein also Menschen an. Da nutzt ein Sieg auch nicht viel.

19.57 Uhr, Yoki - Teil 1: Die Geschichte von Yoki, der in der Ringbahn eingeschlafen und dabei geblieben ist. Yoki wachte von der Ansage auf, die ihm aus irgendeinem Grund empfahl, weitläufig per Ringbahn zu umfahren. Obwohl Yokis Kopf schmerzte, schien ihm das eine gute Idee. Umfahren per Ringbahn. Und dann auch noch weitläufig. Das klang nach einer großmütigen Lösung eines Problems, welches auch immer das sein mochte. Yoki hob seinen Kopf und sah einen fast vollendeten Kreis mit einer Pfeilspitze darin. "S41 nach Ring." Sehr gut. Er war also schon dabei zu umfahren. Nach Ring. Yoki stand auf. Er blickte nach links und bekam eine Faust ins Gesicht. "Die war für mein Bier, das du vorhin umgetreten hast", sagte ihm ein Mann mit langen weißen Haaren ganz ruhig. "In der S-Bahn einpennen und dann um sich treten geht gar nicht."

19.40 Uhr: Die Nacht hat nun übernommen und mit ihr die Nachtmenschen. Merke: Männer mit schief gestochen Tattoos auf den Fingern oder am Halsansatz lächeln grundsätzlich nicht. Auch: Je mehr Farbe jemand in seinen Klamotten hat, desto wahrscheinlicher ist er ein Tourist. Und: Es gibt mittlerweile leuchtend blaue Fahrradketten, also gibt es alles.

19.27 Uhr: Ein Schweizer Autor hat sich angeschlossen. Er tippt auf seiner Schreibmaschine. Nun ist die Aufmerksamkeit der Leute gesichert. Es ist halt so: Schreibmaschinenschreiben geht heute als Performance-Art durch.

Ein schweizer Autor hat sich den Kollegen vom Tagesspiegel in der Ringbahn angeschlossen.
Ein Schweizer Autor hat sich den Kollegen in der Ringbahn angeschlossen.

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18.50 Uhr: Die Technik streikt. Bei einem der Autoren geht der Laptop nicht. Also: OP am offenen Herzen. Doch im Gegensatz zu einem Arzt, der stets neue Patienten bekommt, gilt für den Literaten bei der 24-Stunden-Aktion: Es gibt nur einen Laptop. Französische Flüche sind zu hören. Es wird eng.

18.05 Uhr: Für mich war eine Ringbahn bislang immer das Merkmal einer richtigen Metropole. Doch eine spontane Recherche und eine Umfrage unter Mitreisenden ergeben: New York und Paris haben keine richtigen, klassischen Ringbahnen, London hat so eine verkappte. Moskau immerhin hat eindeutig eine. Aber als Metropolanzeiger taugt die Ringbahn nicht.

18.00 Uhr: Die Berliner Bahnen sollen bekannt dafür sein, dass besonders oft jemand zusteigt, der einen Euro will, oder eine Mark oder einen Taler. Manche nehmen Gerüchten zufolge sogar äthiopische Birr und kirgisische Som. Wie dem auch sei, lautet das Fazit nach nun sechs Stunden: Gerade einmal drei Leute wollten Geld von einem der sieben Autoren. Zwei davon wollten es nicht einmal umsonst, sondern verkauften Straßenzeitungen.
Entweder Berlin ist wohlhabend geworden. Oder das Klischee über die Euro-Mark-Gulden-Schnorrer ist einfach Unsinn.

17.42 Uhr: Der mitschreibende Robert will, dass "Arte" filmt, wie er einen Döner isst und das in Slow Motion abspielt. So verrückt werden die Leute nach 5 Stunden S-Bahn.

17.09 Uhr: "Aber ick fahr schwarz und fütter' mein Sparschwein. Der Song zum heutigen Tag und zu vielen anderen auch: 'Mensch Meier' von Ton Steine Scherben.

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17 Uhr: Immer wieder weist die Bahn auf die Sperrung des Nord-Süd-Tunnels hin. Zur weiträumigen Umfahrung sollte die S-Bahn genutzt werden. "Machen wir doch die ganze Zeit", möchte man da rufen. Doch es geht nicht. Die Bahn kennt nur Durchsagen, kein Durchhören. Gut, auf dem Bahnsteig kann man einem Mikrofon-Pfahl petzen, wenn jemand gerade vermöbelt wird, aber sonst? Es wird Zeit, dass die Bahn Rückkopplung entdeckt.

16.45 Uhr: Die Tagmenschen fahren jetzt nach Hause, mit ernsten Gesichtern halten sich viele ihren Einkaufstüten fest. Die Nachtmenschen kommen aber noch nicht raus. Viertel vor fünf: eine Zeit zwischen den Welten.

16.10 Uhr: Nie hat es einen so abgewrackten, schmierigen und gesetzlosen Vertreter von Recht und Ordnung gegeben wie den "controletti". Diese mit einer Lizenz zum Satz "Ihre Fahrscheine hätt' ich gern gesehen" ausgestattete Kreatur hat beleidigt und geschlagen, hat gepöbelt und immer und immer wieder kontrolliert. Der Controletti ist der lebende Beweis, dass der Polizist nicht nur wie ein Verbrecher denken, sondern einer werden muss, um die anderen Verbrecher zu schnappen. Doch der Controletti ist nur noch selten anzutreffen. In diesen mehr als vier Stunden in der S-Bahn hat sich dieses sonst gar nicht scheue Wesen nicht blicken lassen. Vielleicht ist in unserer durchorganisierten Welt einfach kein Platz für einen rüpelhaften, ignoranten und gewalttätigen Tunichtgut.

15.50 Uhr: Kreative Pinkelideen in der S-Bahn. 1: unauffällig in die ecke. Vorteil: bekommen wenige mit. Nachteil: es stinkt. 2: aus dem Fenster zeigen und schreien: 'Oh mein Gott, das Flugzeug!?! Wenn alle gucken, einfach laufen lassen. Vorteil: sehr lustig. Nachteile: Es stinkt. Und so lustig ist es auch wieder nicht. 3: Flasche. Nachteil: es stinkt, ist ekelhaft und überhaupt gar nicht lustig.

Also doch lieber kurz die Bahn verlassen. Besser so.

15.27 Uhr: Es ist an der Zeit, ein unangenehmes Thema anzusprechen. Der S-Bahn-Ring ist eine Demarkationslinie. Ziehen Webentwickler aus New York oder hauptberufliche Raver aus Rotterdam nach Berlin. dann wollen sie: "Innerhalb des Rings wohnen. Egal wo. Nur innerhalb." Im Ring ist Umweltzone, außerhalb verpesten Fords aus der Helmut-Kohl-Ära die Luft. Innerhalb des Rings scheint die Sonne. Außerhalb ist gefühltes Brandenburg. Innerhalb wachsen die Bärte in die Länge. Außerhalb warten glatt rasierte Vertreter auf die nächste Pferdedroschke.

Das ist natürlich alles purer Unsinn. Aber mit einem wahren Kern.

15.07 Uhr: Wie ist es so, in einer S-Bahn zu schreiben und dabei gefilmt und von Reisenden beobachtet zu werden?

Amélie Vrla: "Es ist ein bisschen wie für einen Schauspieler, der sich selbst in seiner Rolle beobachtet, Es wird noch eine etwas brauchen, bis wir uns an das Setting gewöhnt haben"

Neil Jomunsi (Frankreich): "Es ist sehr schwierig, sich zu konzentrieren. Ich schreibe sonst in vollkommener Stille, zu Hause. Zeitweise komme ich den Konzentrationstunnel, aber meistens habe ich das Gefühl, irgendeine Scheiße zu schreiben"

Nicoletta Grillo (Italien): "Es ist physisch sehr anstrengend. Die Bewegung und der Gestank. Ich merke jetzt schon meine Beine. Das wird hart, bis Sonntagmittag durchzuhalten."

Robert Klages (Berlin): "Ich habe mein Gehirn, Berlin und die S-Bahn ganz neu erfahren. Ich fühle mich wie ein Ei, das zu lange gedreht wurde und das plötzlich still steht, während das Innere sich weiterdreht. So ein Kolumbus-Ei."

Nicolas Ancion (Belgien): "Es gibt in Frankreich einen Film, wo ein Typ von Dach stürzt und während er fällt sagt: Soweit st alles in Ordnung. So fühle ich mich."

14.34 Uhr: Zweieinhalb Mal rum und noch nicht einmal kontrolliert worden. Beeindruckend regellos, dieser S-Bahn-Verkehr.

14.17 Uhr: Auf dem Boden: leere Jägermeister-Pulle. 4cl. Liegend. Daneben: PocoLoco-Chips. Zerknüllt. Dazwischen: Tasche mit durchgestrichenem Hakenkreuz. Aufrecht stehend. Ostkreuz. Soll ja die meistgenutzte Öffi-Station Deutschlands sein. Östlich von Berlin sind das luftige Brandenburg und der historisch dünn besiedelte Oderbruch. Wo also fahren all die Ostkreuzler hin?

14.02 Uhr: Gesundbrunnen: wie sieht das Gegenteil einer verwunschenen Heilquelle aus? Richtig: Gesundbrunnen. Schönhauser: Wie schleichend der Geruch von Erbrochenem aus dem hinteren Teil des Waggons nach vorne zieht, um 14 Uhr, an einem Samstag. Es ist leider wahr. Zweite Runde ist rum. Wo war hier nochmal das Raucherabteil?

13.55 Uhr: Beusselstraße: niemand hat die Absicht, in Berlin Industrie anzusiedeln. Westhafen: Hat es einen speziellen Grund, dass Berlin so viele Ost-West-Namen hat wie sonst nur ein Diwan? Wedding: 94 Prozent der Amerikaner, die Reiseziele nach Namen aussuchen, finden den Wedding nicht romantisch.

13.49 Uhr: Messe Nord: Bitte baut hier nicht die neue Zentralbibliothek hin. Bitte. Westend: brüllt der Radikal-Islamist zum dekadenten Spaßbürger: Westend! Jungfernheide: so viel Vorort ist bei der Ringbahn sonst nur an der Storkower Straße.

Schön kuschelig. Die in Berlin lebende Italienerin Nicoletta Grillo, die Drehbuchschreiberin Amélie Vrla und Tagesspiegel-Mitarbeiter Robert Klages.
Schön kuschelig. Die in Berlin lebende Italienerin Nicoletta Grillo, die Drehbuchschreiberin Amélie Vrla und Tagesspiegel-Mitarbeiter Robert Klages.

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13.43 Uhr: Hohenzollerndamm: wohin nur mit all dem Platz, wo früher Gleise lagen? Vielleicht eine Ringbahn für Radler? Halensee: das hypnotische Geräusch von bis zu 14 tippen Händen. Dafür kann Halensee natürlich nichts. Westkreuz: Sagt das Westkreuz zum Ostkreuz: guck dir mal dir Freiheitsstatue von hinten an.

13.38 Uhr: Innsbrucker Platz: eingekeilt zwischen Autobahn und Bahnbrachland, wartend auf ein Einkaufszentrum. Bundesplatz: mit dem Namen kann keine Realität mithalten. Heidelberger Platz: Draußen, einsam, eine Gartenhütte, die früher bestimmt von ihresgleichen umgeben war.

13.32 Uhr: Tempelhof: "Ich will ein Rind von dir" - diese Lieferando-Werbung gibt keine Ruhe. Südkreuz: Du Perle des Südens, mon Amour... Schöneberg: immerhin nicht Schönefeld.

13.26 Uhr: Neukölln wartet mit einem Eurogida-Supermarkt auf. Pegida würde sich auch nicht hierher trauen. Hermannstraße: "Wasabi da nur bestellt?". Tempelhof: Das weite Feld, auf dem gerade keiner Frisbee spielt.

13.20 Uhr Sonnenallee: das Hotel Estrel ist hier das Raumschiff von einem zum Glück fernen Planeten.

13.19 Uhr: Treptower Park: wartet auf die A100 - wenn es sonst schon keiner tut.

13.17 Uhr: Ein Satz zu jeder Ringbahnstation. Ostkreuz: Das Ostkreuz sieht aus wie das Südkreuz, wird so lange gebaut wie das Schloss und ist so schlecht angebunden wie der Hauptbahnhof: das Ostkreuz ist Berlin.

Richtig, in der S-Bahn gibt es ja keine Tische. Gemütlich?
Richtig, in der S-Bahn gibt es ja keine Tische. Gemütlich?

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13.11 Uhr: Erste volle Ring-Runde abgeschlossen. Zwischenfazit: es dauert 1 Stunde und 7 Minuten. Es tut nicht weh. Und: wenn man in der S-Bahn sitzt, kann man nicht auf sie warten, sich über ihren Ausfall ärgern oder beim Ballspiel auf den Gleisen von ihr erfasst werden. Also: nie wieder aussteigen.

13.03 Uhr: Wedding. Der Lückenschluss der Ringbahn 2002 wurde angeblich Wedding-Day genannt. So wie die ganze Strecke Hundekopf heißen soll. Sagt alles das Internet. Unwahrscheinlich, dass auch nur ein Berliner diese Worte verwendet.

12.43 Uhr. Kalter Krieg in der S-Bahn. Am Heidelberger Platz ist kaum noch jemand in der Bahn. Boykottieren die Wessis immer noch die DDR-Bahn? Dürfen rumänische Babys wirklich McDonald's-Burger essen, wie gerade hier beobachtet? Und was würde wohl Marge H. In Ihrem Südamerikas Exil zu all dem sagen?

12.38 Uhr: Südkreuz. Viel Grau. Viel Glas. Ernüchternde Transparenz. Irgendwie traurig, dass bald viele Bahnhöfe so aussehen sollen, das Ostkreuz beispielsweise oder die Warschauer Straße. Das Südkreuz ist der Michael Müller unter den Bahnhöfen. Schlicht und effizient. Wo bleibt da echte Begeisterung?

12.25 Uhr: Die Menschen in der S-Bahn sind von dem französisch-italienisch-deutschen Literatenauflauf einigermaßen fasziniert. Es sieht ja auch sehr hipsteresk aus, wenn 7 Menschen in die Bahn steigen und mit högschter Konzentration auf ihre Laptops einzuschreiben beginnen. Die Kamerateams suchen noch nach aufregenden Perspektiven. Schreiben ist nun einmal ein kaum szenischer Vorgang. Draußen: Sonnenallee. Eine sehr unszenische Station.

12.15 Uhr: Alle 7 Autoren sind nun da. Fast jeder hat sein "eigenes" Kamerateam mitgebracht. Arte, Deutschlandfunk, französische Blogger. Beinahe steigen alle in die S9 nach Schönefeld. Doch dann ist unser neues Zuhause da: die S41. Im Uhrzeigersinn.

Gleich geht's los. Nik Afanasjew wartet auf die Ringbahn.
Gleich geht's los. Nik Afanasjew wartet auf die Ringbahn.

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11.53 Uhr: Der Tag in der S-Bahn beginnt. Ein russischer Gitarrist verbreitet an der Greifswalder melancholische Grundstimmung. Draußen sehr gleichmäßiges Grau. Gegenüber anderen Verkehrsmitteln hat die S-Bahn den miesesten Ruf. Die U-Bahn fährt immer. Die S-Bahn streikt oft. Der Bus hilft ihr immer aus. Dabei ist sie das majestätischste aller Fortbewegungsmittel. Ohne Stau und Rote Ampeln mit Panoramablick durch die Stadt. Sehr schön ist das.

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