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Die Neue Synagoge in Berlin-Mitte.

© picture-alliance/ dpa

Gesellschaft: Erster Jüdischer Zukunftskongress startet in Berlin

Der Jüdische Weltkongress in Berlin soll verschiedene Perspektiven jüdischen Lebens zeigen. Es geht auch um den Weg als Deutscher und Jude.

Walter Homolka und Dmitrij Belkin stammen aus verschiedenen Welten. Im mehrheitlich katholischen Niederbayern aufgewachsen, trat Homolka Anfang der 80er Jahre mit 17 ins Judentum ein und wurde später Rabbiner. Heute ist er Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs und Professor für Jüdische Theologie an der Universität Potsdam.

Der Historiker, Autor und Kurator Belkin wiederum ist gebürtiger Ukrainer und reiste in den frühen 90er Jahren als Kontingentflüchtling auf „jüdischem Ticket“, wie er es ausdrückt, aus der kürzlich zerfallenen Sowjetunion ins frisch vereinigte „Germanija“. Seinem gleichnamigen Buch zufolge, kultivierte er erst als junger Student in Tübingen eine eigentlich jüdische Lebensform. Was aber macht diese aus? Zumal in Deutschland und Europa, wo Jüdinnen und Juden vor nur etwas mehr als 70 Jahren noch systematisch ermordet wurden?

Zukunftskongress soll Spektrum der jüdischen Lebenswelten zeigen

Allein die ungleichen Biographien von Belkin und Homolka deuten darauf hin, dass es hierbei keine einfachen Antworten gibt. Die Fragen, wie jüdisches Leben im 21. Jahrhundert aussehen kann und ob dieses in Deutschland 80 Jahre nach der Reichspogromnacht eine dauerhafte Perspektive hat, sollen nun in einem Forum diskutiert werden.

Am 5. November startet in Berlin auf Initiative von Kultursenator Klaus Lederer (Linke), der Leo Baeck Foundation und der Bundeszentrale für politische Bildung der erste Jüdische Zukunftskongress. Dieser soll dem breiten Spektrum jüdischer Lebenswelten und der Stimmenvielfalt deutscher Jüdinnen und Juden eine perspektivische Plattform bieten. Welchen Weg geht die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und – damit eng verknüpft – die deutsche Gesellschaft im Ganzen? Unter welchen Bedingungen, fragen die Veranstalter, gibt es einen Weg als Deutscher und Jude?

Der Rabbiner Walter Homolka.
Der Rabbiner Walter Homolka.

© Ralf Hirschberger/dpa

Rabbiner Homolka, der den Zukunftskongress als Vorsitzender der Leo Baeck Foundation mitorganisiert, sagt, er und Klaus Lederer wollten die klassisch-vergangenheitsorientierten Formen des Erinnerns zum Jahrestag der Reichspogromnacht „um eine vorwärts gerichtete Gedenkkultur ergänzen“. Nicht von ungefähr trägt ein parallel zum Kongress erscheinender Sammelband mit Beiträgen von Stipendiaten des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks den programmatischen Titel „Weil ich hier leben will…“ Dies, so Rabbiner Homolka, sei nicht als zaghafte Frage, sondern als klare Ansage zu verstehen.

Berlin als Herz der weltweiten Diaspora

Dass sich 80 Jahre nach den Novemberpogromen in Deutschland und speziell in Berlin, als der ehemaligen Schaltstelle des organisierten Massenmords, ein buntes und stimmstarkes Judentum entwickelt hat, das auf gesellschaftliche Teilhabe pocht, ist alles andere als selbstverständlich.

Der Buchautor und Kurator Dmitrij Belkin.
Der Buchautor und Kurator Dmitrij Belkin.

© Kitty Kleist-Heinrich

Dmitrij Belkin, der für die Koordination des Zukunftskongresses verantwortlich zeichnet, meint, dass sich besonders Berlin, trotz der deutschen Vergangenheit und des neuerlichen Aufschwungs völkisch-rassistischen Gedankenguts, derzeit zu einem Herzen der weltweiten jüdischen Diaspora mausert. Belkin zufolge sind Renaissance und neues Selbstbewusstsein in erster Linie deshalb möglich, weil hier die Kinder und Enkel der „alteingesessenen“ deutschen Juden, die zweite und dritte Generation postsowjetisch-jüdischer Migranten und junge Berlin-affine Israelis zusammentreffen. „Anders als meine russischsprachigen Eltern in Süddeutschland, die mit den deutschen Juden ihrer Generation kaum je in Kontakt gekommen sind, haben die Jüngeren vielfache Berührungspunkte.“

Verschiedene Arten des Erinnerns

Auch die Institutionen, so sehen es Belkin und Homolka, sind im Begriff sich zu wandeln. Wo die Älteren meist bloß ihre Gemeinden als einzigen Anlaufpunkt kennen würden, setzten jüngere Jüdinnen und Juden mehr auf fluide Konzepte jenseits fester Gemeindestrukturen. Man treffe sich in informellen Runden, in Clubs und anderen Kulturstätten, gründe Vereine und Initiativen, schaffe Räume der Begegnung. „Zur Stärkung der jüdischen Identität ist es wichtig, dass Juden mit anderen Juden an jüdischen Orten etwas Jüdisches machen. Das kann auch das gemeinsame Schauen von Woody-Allen-Filmen sein und muss sich nicht unbedingt im Rahmen der jüdischen Kultusgemeinde abspielen“, sagt Rabbiner Homolka.

Dabei würden die in verschiedenen Kulturräumen sozialisierten Jüdinnen und Juden auch verschiedene Arten des Erinnerns pflegen. „Die russischstämmigen Juden sehen sich meist nicht als Opfer, sondern als diejenigen, die Nazideutschland besiegt haben“, sagt Dmitrij Belkin. Diese könnten dazu beitragen, der deutschen Mehrheitsgesellschaft ein anderes Bild des Judentums zu eröffnen, das nicht nur auf die Shoah oder den israelisch-palästinensischen Konflikt reduziert sei.

Auch Kampf gegen Juden- und Islamfeindlichkeit soll thematisiert werden

Angesichts eines zunehmend lauter und aggressiver werdenden Antisemitismus sei ein starkes jüdisches Selbstbewusstsein unbedingt geboten. Nicht zuletzt stelle das mehrtägige Forum einen offenen Raum des Empowerments dar. „Als deutsche und europäische Juden bestimmen wir mit, wie Deutschland und Europa aussehen sollen“, erklärt Belkin. Weder von den alten noch den neuen Rechten wolle man sich vertreiben oder einspannen lassen. Die jüdische Zivilgesellschaft spiele in diesem Prozess eine Schlüsselrolle.

Nicht von ungefähr soll es auf dem Jüdischen Zukunftskongress auch um den gemeinsamen Kampf gegen Juden- und Islamfeindlichkeit und das allgemeine Streiten für die offene und freie Gesellschaft gehen. Trotz der lebensweltlichen Unterschiede, sagt Belkin, würden Juden, ganz gleich ob russisch oder deutsch, ob säkular oder religiös, durch Antisemitismus zusammengeschweißt. „Gemeinsam ist uns Juden vor allem die Erfahrung, immer wieder als Fremde zu gelten. Eben deshalb sind wir auch gegenüber anderen als fremd geltenden Menschen zu Hilfe und Solidarität verpflichtet.“ Belkin und Homolka zufolge heißt Jüdisch-Sein heute, auf keinen Fall passiv zu verharren, sondern sich lautstark einzubringen und bei aller Traditionswahrung immer voll in Bewegung zu bleiben.

Jüdischer Zukunftskongress, 5. bis 11. November, verschiedene Orte. Das Programm finden Sie unter www.juedischer-zukunftskongress.org. Das Buch zum Kongress: Walter Homolka, Jonas Fegert, Jo Frank (Hg.): „Weil ich hier leben will… Jüdische Stimmen zur Zukunft Deutschlands und Europas“, Herder 2018, 225 Seiten, 20 Euro.

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