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Pius Ladenburger sagt: "Das habe ich in keiner anderen Stadt erlebt."

© Frank Bachner

Gewalt im Berliner Nahverkehr: Schlag aus dem Nichts

In einem voll besetzten S-Bahn-Abteil prügelt ein Mann plötzlich brutal auf Pius Ladenburger ein. Die Ermittlungen dauern an – nun erzählt der 18-Jährige seine Geschichte.

Den ersten Schlag hat Pius Ladenburger eigentlich gar nicht genau gesehen. Der muskulöse Mann neben ihm schlug eher unkontrolliert um sich, so kam es dem 18-Jährigen jedenfalls vor. Zum zweiten Schlag kann er viel mehr sagen. Der zweite Schlag landete in seinem Gesicht.

Der muskulöse Mann, etwas kleiner als Ladenburger, hatte diesmal gezielt geschlagen, er traf den Mund des arglosen Informatikstudenten, der in einem voll besetzten S-Bahn-Abteil zufällig neben ihm stand.

26. Februar, 9.30 Uhr, S-Bahnhof Wedding, Pius Ladenburger, 1,80 Meter groß, 60 Kilogramm schwer, ein schlaksiger Mann, wird Opfer einer besonders perfiden Attacke. Ein Schlag ohne jeden Anlass, ein Schlag aus dem Nichts. Täter ist ein arabisch aussehender Mann, etwa 40 Jahre alt. Neun Wochen später sagt Ladenburger: „Etwas läuft in dieser Stadt aus dem Ruder.“

"Schlägereien gibt es überall"

Es geht in dieser Geschichte auch um den Eindruck, dass es keine Grenzen mehr gibt. Um das völlige Verschwinden des eigenen Sicherheitsgefühls. Es sind Erfahrungen, die wohl immer mehr Menschen in Berlin machen.

Der 18-Jährige hat länger in Stuttgart und China gelebt, seit sieben Jahren ist er nun in Berlin. „Klar, Schlägereien gibt es überall“, sagt er, „aber dass jemand grundlos geschlagen wird, das habe ich noch in keiner anderen Stadt erlebt.“ Zeitverzögert geht er mit diesen Erfahrungen an die Öffentlichkeit.

Ungefähr 2620 Delikte mit Körperverletzungen hat die Bundespolizei-Direktion Berlin im vergangenen Jahr aufgenommen. Enthalten sind in diesen Zahlen aber auch Vorfälle in Brandenburg, die Direktion ist sowohl für Berlin und Umland als auch für Brandenburg zuständig.

„Aber die meisten der Delikte“, sagt ein Sprecher der Bundespolizei, „haben sich in Berlin und dem Umland ereignet“. Eine genau Aufschlüsselung gibt es nicht. 2016 ermittelte die Direktion Berlin noch in rund 2780 Verfahren wegen Körperverletzung. Da lagen die Zahlen also höher als 2017.

Statistik nützt ihm nichts

Pius Ladenburger nützt diese Reduzierung nichts. Es nützt ihm auch nichts, dass statistisch die Zahl der Rohheitsdelikte in Berlin im vergangenen Jahr gegenüber 2016 um 1,9 Prozent gesunken ist. Das sind trockene, abstrakte Ziffern, die Ladenburger nicht mit seinem Alltag verbindet. Aber den Satz eines Polizisten, der den Fall bearbeitet hat, den hat er noch sehr präsent: „So etwas passiert tausendfach in Berlin. Die Bearbeitung kann noch etwas dauern.“

Ein Satz, der längere Folgen hat als die körperlichen Schmerzen. Die aufgeplatzte Lippe ist inzwischen verheilt, aber Ladenburger trägt immer noch eine Metallspange im Mund, die einen wackelnden Zahn stabilisiert. Und er kann immer noch nicht normal essen.

Er hätte gerne Videokameras auch in S-Bahnen, er unterstützt nun „gewissermaßen“ die Ziele einer Bürgerinitiative, die für mehr Videoüberwachung Unterschriften sammelt. Dann würde die Polizei eventuell den Täter schneller finden. Der Täter verschwand sofort auf dem Bahnsteig, der Zug stand ja in diesem Moment im S-Bahnhof Wedding.

An 91 Berliner S-Bahnhöfen beziehungsweise Regionalbahnhöfen mit S-Bahn-Anschluss werden Videokameras eingesetzt. „Die Ausstattung mit Videotechnik erfolgt in Abstimmung zwischen der Bundespolizei und der Bahn, berücksichtigt also bahnbetriebliche wie polizeifachliche Kriterien. Eine flächendeckende Videoüberwachung aller Bahnhöfe ist aus Gründen des Datenschutzes nicht möglich“, sagt ein Sprecher der Bahn.

Das Video-Ausbauprogramm von Bahn und Bund „sieht vor allem eine Modernisierung vorhandener Technik vor“. Die aktuell eingesetzten S-Bahnzüge hätten keine Videotechnik, die neuen Züge ab 2021 würden von Anfang an mit Videotechnik ausgerüstet.

Für Pius Ladenburger Jahre zu spät. Der Täter und er, das Opfer, waren fünf Minuten vor dem Angriff gemeinsam eingestiegen, am S-Bahnhof Gesundbrunnen. Sie standen zufällig zusammen, der Wagen war voll besetzt. Ladenburger sagt, er habe nicht besonders auffällig ausgesehen, er habe auch nichts Besonderes gesagt.

Mit einem Kommilitonen redete er über Klausurvorbereitungen an ihrer Uni in Potsdam. „Ich habe auch nicht provozierend geschaut.“ Er hatte den arabisch aussehenden Mann ohnehin überhaupt nicht beachtet. Bis der Schlag kam, gezielt auf ihn. Warum? „Ich weiß es nicht.“

Gleichgültigkeit bei den Zeugen

Alles lief in Sekundenschnelle ab. Ladenburger und sein Freund waren schockiert. Doch liefen jene Szenen ab, die ihn ebenso belasten. „Am meisten hat mich danach die Gleichgültigkeit und die Selbstverständlichkeit schockiert, mit der die Leute das hingenommen haben.“ Zehn bis 15 Personen seien Zeugen dieses Vorfalls gewesen. Die meisten haben nicht reagiert und sind mit dem Zug weitergefahren.

Wahrscheinlich auch deshalb, weil sie gesehen haben, dass drei Frauen mit Ladenburger und seinem Freund ausgestiegen sind und ihm geholfen haben. Aber Ladenburger stieß auch auf jenen Punkt, den so viele Gewaltopfer erzählen. Dass es genügend Zeugen gibt, dass aber niemand eingreift und versucht, den oder die Täter zu stoppen. Alltag in Berlin.

Auf dem Bahnsteig wurde Ladenburger ärztlich versorgt, er kam zur Behandlung in eine Klinik. Die Berliner Polizei nahm den Vorfall auf, sie übertrug später den Fall an die Bundespolizei. Ein Sprecher der Bundespolizei bestätigte dem Tagesspiegel, dass es diesen Vorfall gab, nannte aber ansonsten wenig Einzelheiten. Nur so viel: „Ermittlungen laufen.“

Ladenburger hat den Vorfall schriftlich bereits geschildert, als Zeuge wurde er bislang nicht vernommen. Aber Bilder hat ihm die Polizei vorgelegt, Bilder von Personen, auf die Ladenburgers Täterbeschreibung passen könnte. Die Bilder stammen von den Videokameras am Bahnhof. Die Polizei hatte ja die genaue Uhrzeit des Vorfalls, da konnte man einen überschaubaren Personenkreis filtern. Doch den Täter hat Ladenburger auf den Fotos nicht entdeckt. Die Ermittlungen dauern an.

Das Opfer hat dafür sogar noch Verständnis: „Die Polizei ist ja auch überlastet.“ Andererseits sagt der 18-Jährige: „Meine Enttäuschung darüber, dass erst nach zwei Monaten wirklich die Fahndung nach jemandem aufgenommen wird, der in der Lage ist, wahllos Menschen niederzuschlagen, sollte verständlich sein.“

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