
© Julian Stratenschulte/dpa
„Ich bin erschöpft und frustriert“: Berliner Lehrer machen mehr als zwei Millionen unbezahlte Überstunden pro Jahr
Berlins Lehrer arbeiten deutlich mehr als die vorgesehenen 40 Stunden pro Woche, zeigt eine neue Studie. Eine Weddinger Lehrerin erzählt von ihren Erfahrungen – und den Folgen.
Stand:
Fast jede dritte Berliner Vollzeit-Lehrkraft arbeitet während der Schulwochen mehr als 48 Stunden. Das ergibt die neue Arbeitszeitstudie, die die Berliner Bildungsgewerkschaft GEW gemeinsam mit der Georg-August-Universität Göttingen durchgeführt und am Mittwoch vorgestellt hat. Die normale Wochenarbeitszeit bei einer Lehrer-Vollzeitstelle beträgt 40 Stunden.
Nach Angaben der Studienautoren summieren sich die unbezahlten, nicht angeordneten Überstunden auf mehr als zwei Millionen Stunden pro Jahr. Zum Ausgleich seien rechnerisch mehr als 1300 zusätzliche Vollzeitstellen nötig, sagte Studienleiter Frank Mußmann. Zur Einordnung: Aktuell arbeiten laut Bildungsverwaltung rund 35.900 Lehrkräfte an Berlins Schulen, ein Teil davon in Teilzeit.
Insgesamt leisten fast zwei von drei Berliner Lehrkräften im empirischen Mittel pro Jahr rund 100 Stunden mehr Arbeit als die vorgesehenen 1772 Stunden – die Arbeitszeiten von Teilzeitkräften wurden hier in Relation berücksichtigt. Umgerechnet auf die 44 Arbeitswochen in anderen Berufen ergibt das pro Woche zwei Stunden und 14 Minuten an Mehrarbeit.
Für die Studie haben rund 1200 Berliner Lehrkräfte an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen über das gesamte vergangene Schuljahr ihre Arbeitszeit erfasst.
Schulleitungen und Gymnasiallehrer besonders betroffen
Besonders viel arbeiten laut der Studie Schulleitungen, Gymnasiallehrkräfte und Lehrer von sprachlastigen Fächern wie Deutsch, Englisch und Geschichte. Ebenfalls betroffen sind Teilzeitkräfte – je geringer die vorgesehene Arbeitszeit, desto weiter geht die tatsächliche darüber hinaus. „Dies deutet darauf hin, dass viele Lehrkräfte Teilzeit wählen, um die Aufgabenflut zu bewältigen und so faktisch ihren Arbeitsschutz selbst finanzieren“, kritisiert Martina Regulin, Vorsitzende der Berliner GEW.
Mußmann und sein Mit-Studienleiter Thomas Hartwig von der Göttinger Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften führen die Überstunden, die Berliner Lehrkräfte leisten, vor allem auf den Anstieg an Aufgaben zurück, die nichts mit dem erteilten Unterricht, dessen Vorbereitung oder Prüfungskorrekturen zu tun haben. „Diese sonstigen Tätigkeiten sind seit 1960 von 16 Prozent auf 37 Prozent angewachsen, und der Trend ist ungebrochen“, sagte Mußmann.
Wir wollen den Job machen, aber wir wollen auch gesund bleiben, und es muss doch beides möglich sein.
Caroline Muñoz del Rio, Lehrerin und Studienteilnehmerin
Das bestätigte auch Caroline Muñoz del Rio, Lehrerin und Studienteilnehmerin. Sie nannte als zusätzliche Herausforderungen vor allem die Digitalisierung und die neuen pädagogischen Anforderungen, die sich durch eine immer heterogenere Schülerschaft ergäben. Die 44-Jährige unterrichtet an einem Oberstufenzentrum in Wedding und sagte, in jeder Klasse habe sie einen oder zwei Schüler mit Autismus, außerdem Schüler mit Fluchterfahrungen, Problemen mit Schuldistanz oder trans oder nonbinärer Identität, „wo es für mich erhöhten Beratungsbedarf gibt“.
Arbeit ohne Pausen, am Abend und am Wochenende
Sie arbeite trotz Teilzeitstelle viel zu viel und ohne Pausen, unter anderem auch regelmäßig abends und am Wochenende, berichtete die Lehrerin. Auch ihre Gesundheit leide: Muñoz del Rio berichtete von ständiger Anspannung, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. „Ich bin erschöpft und frustriert, weil ich mich von meinem Arbeitgeber alleingelassen fühle“, sagte die Lehrerin. „Wir wollen den Job machen, aber wir wollen auch gesund bleiben, und es muss doch beides möglich sein.“
Die Bildungsverwaltung solle sich gegenüber den Lehrkräften genauso verantwortlich fühlen wie gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern. „Unsere Arbeitsbedingungen sind ihre Bildungsbedingungen“, sagte Muñoz del Rio.
Gewerkschaft fordert Arbeitszeiterfassung für Lehrkräfte
Gesundheitsschutz und Lehrkräfte schienen dem Senat „ein wenig egal zu sein, weil es ja noch gut funktioniert“, kritisierte GEW-Chefin Regulin. „Aber es funktioniert eben gut auf Kosten der Lehrkräfte.“ Die GEW fordert eine vollständige Erfassung der tatsächlichen Arbeitszeit. Gemeinsam mit den Personalräten müssten außerdem verbindliche Regelungen zum Abbau der Mehrarbeit geschaffen werden.
„Die chronische Überlastung muss gestoppt werden – für die Gesundheit der Lehrkräfte, für die Qualität der Bildung und um den Beruf wieder attraktiv zu machen“, sagte Regulin. „Der Beruf ist ein sinnerfüllter, aber wenn Lehrkräfte in einer Gratifikationskrise sind, ist das nicht der richtige Weg.“
Die Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus nannte die Studie am Mittwoch einen „Weckruf“ und schloss sich den Forderungen der GEW an. „Die rechtlichen Vorgaben zur Arbeitszeiterfassung gelten auch für Schulen. Dass dies bisher nicht geschieht, ist ein Versäumnis des Senats – und ein Bruch mit seiner Fürsorgepflicht gegenüber dem pädagogischen Personal“, sagte der schulpolitische Sprecher Louis Krüger.
Die Ergebnisse zeigten außerdem, dass das Deputatsmodell – also die Arbeitszeitbemessung anhand der zu erteilenden Unterrichtsstunden – veraltet sei. „Die Vielzahl außerunterrichtlicher Aufgaben – Elterngespräche, Korrekturen, Digitalisierung, Dokumentation – muss in einem neuen, realistischen Arbeitszeitmodell berücksichtigt werden“, sagte Krüger.
Ein Sprecher der Bildungsverwaltung teilte am Mittwoch mit, Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch sei bereits „offen gegenüber dem Thema Arbeitszeiterfassung“ und habe dazu auch schon einen ersten Meinungsaustausch mit der GEW gehabt.
Im Rahmen der Arbeitszeitstudie wurden unter Berliner Lehrkräften über das vergangene Jahr auch verschiedene Online-Befragungen zu Arbeitsbelastung und -zufriedenheit durchgeführt. Mit durchwachsenen Ergebnissen: Berlins Lehrkräfte leiden demnach zu hohen Anteilen unter der schlechten digitalen Ausstattung der Schulen, fühlen sich im Beruf überlastet und unglücklich und würden ihn nicht noch einmal wählen oder weiterempfehlen. (mit dpa)
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: