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Berlin: Jürgen Engert: Klarsicht ist sein Anliegen

Der Ruhestand mit 65 ist Gesetz. Doch was heißt das schon für Jürgen Engert, der heute offiziell verabschiedet wird?

Der Ruhestand mit 65 ist Gesetz. Doch was heißt das schon für Jürgen Engert, der heute offiziell verabschiedet wird? Der Gründungsdirektor des ARD-Hauptstadtstudios geht, der Publizist bleibt. Er brilliert mit der Feder genauso wie als Fernsehmann. Und er kennt wie kein Zweiter das alte und neue facettenreiche Innenleben Berlins. Früher hat er es so genau und kritisch beleuchtet, weil die Stadt eine Aufgabe als Lastträger und Treuhänder der deutschen Frage hatte. Jetzt hat sie eine Zukunftsaufgabe.

"Ich bin kein Politiker und muss die Stadt nicht auf einen griffigen Nenner bringen. Ich muss den Jubilar nicht auf den Sockel stellen, um Ehrfurcht und hohes Staunen zu erwecken", schrieb er in einem Aufsatz für den Festalmanach zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987. Der Satz ist typisch für Jürgen Engert. Klarsicht ist sein Anliegen. Deshalb ist ihm die Warum-Frage so wichtig. Er geht ihr erklärend, verstehend, mit Ironie oder beißender Spottlust nach. Kritik als Pädagogik ist keine platte Haudrauf-Kritik.

Jürgen Engert ist Wahl-Berliner aus Dresden. Damit hatte und hat er einen anderen Zugang zu den Ost-West-Verhältnissen als angestammte Westdeutsche. Wie viele seiner Generation verließ er seine Heimatstadt nach dem Abitur, weil er als Bürger-Kind keinen Studienplatz bekam. Das war so in der frühen DDR. Er wurde Oststudent an der FU - Geschichte, Germanistik, Philosophie. Auch als Journalist ist er durch eine Schule gegangen, die es nicht mehr gibt. Das Handwerk lernte er bei der West-Berliner Zeitung "Der Abend", bei der er als Student hospitierte, 1961 politischer Redakteur und 1974 Chefredakteur wurde. Er stieß auf hochgebildete, unabhängige Redakteure, die schon in den Zwanzigerjahren einen Namen hatten. Der Begründer und Chefredakteur Maximilian Müller-Jabusch war Leitartikler beim Berliner Tageblatt; die Nazis straften ihn durch Zwangsarbeit. Andere kamen von der Vossischen Zeitung, von Ullstein-Blättern oder von Ossietzkys Weltbühne.

Solche Eliten waren auch bei anderen West-Berliner Blättern zu finden. Aber der Abend, der von 1946 bis Anfang 1981 erschien, hatte als Boulevardzeitung mit hohem Anspruch eine unverwechselbare Note. Er bot leichte Lektüre, nur eben leicht wie Sekt. Was amüsant wirkte, war in Wahrheit inhaltsschwer, präzise in der Nachricht, vorurteilsfrei im Kommentar, feuilletonistisch gewitzt. Auch die Redaktionsatmosphäre war lockerer als anderswo, anregend, produktiv, Talentschmiede für den Nachwuchs.

Der Abend war die Feder der Nacht. Keine Theater-, Opern- oder Filmpremiere, über die nicht anderntags im Abend ausführliche Kritiken erschienen. Abend-Redakteure traten früh um fünf ihren Redaktionsdienst an und klingelten Politiker aus dem Bett, um auf den neuesten Stand der Dinge zu kommen. Der Abend war auch die erste Zeitung, die hinter den Kulissen der Politik Menschliches und Allzumenschliches aufpickte. Jürgen Engert war der Erfinder dieser Sonnabend-Kolumne. Als der Tagesspiegel diese Form übernahm, fiel sie aus dem Rahmen seiner strengen Trennung von Nachricht und Kommentar, von öffentlich und privat, die keinen Zwischenton zuließ.

Der junge Engert kam in eine Zeitungsstadt. Die Lizenzträger hatten die Allierten 1945/46 sorgsam ausgewählt. Und alle träumten davon, eines Tages Hauptstadtzeitung zu werden. Doch anders als die später hinzugekommenen Springer-Zeitungenmussten sie ohne das Kapitalpolster von Großverlagen auskommen, noch zumal auf der Insel Berlin. Der Tagesspiegel überlebte, der Abend immerhin länger als andere. Abend-Verleger Hans Sonnenfeld demonstrierte Sparsamkeit, indem er selbst nur mit Bleistiftstummeln hantierte. Es gab Zeitungen, die der SPD oder der CDU nahe standen. Der Tagesspiegel und der Abend waren strikt unabhängig. Aber in dem einen Punkt des Freiheits- und Überlebenskampfes sprach ganz Berlin (West) mit einer Stimme - Politiker, Unternehmer, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände und Vereine. Und die Zeitungen gaben dieser Stimme Ausdruck, so kritisch sie die Tagespolitik begleiteten.

Jürgen Engert hat an diesem Kapitel Berliner Zeitungsgeschichte mitgeschrieben. Der Abend, der ihn geprägt hat und den er prägte, wirkte meinungsbildend. Er wurde auch in Bonn aufmerksam gelesen, und Engert hatte nie Probleme, prominente Gastautoren zu finden. Er selbst schrieb auch für westdeutsche Zeitungen. Mit einem Artikel im Abend über den Rechtsanwalt und Honecker-Vertrauten Vogel erschrieb er sich den Theodor-Wolff-Preis. Titel: "Dr. Vogel, Friedrichsfelde, Railer Straße 4." Das Interessante an der Berlin-Politik war ja, dass sie alles umfasste - von der kommunalen bis zur Entspannungspolitik und zur Studentenrevolte. Der Abend zeichnete sich durch Unvoreingenommenheit aus.

Als der Teppichhändler Sabet im Sommer 1980 den Abend kaufte, merkte Engert sofort, dass es vorbei war mit der Seriosität. Konsequent, wie er ist, ging er. Der Abend ging wenige Monate später ein. Engert betrat beim Fernsehen Neuland. Aber vom Schreiben konnte und kann er nie lassen.

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