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Brandanschlag. Der Wagen des Neuköllner Linkenpolitikers Ferat Kocak wurde im Februar 2018 bei einem rechten Angriff zerstört

© Ferat Kocak/Die Linke/dpa

Exklusiv

Kommissions-Bericht zu Neuköllner Nazi-Taten: Massiver Verlust an Vertrauen gegenüber Sicherheitsbehörden

Ex-Polizeipräsidentin Uta Leichsenring und Ex-Bundesanwalt haben den Zwischenbericht zu den rechten Attacken vorgelegt. Die Sicht der Opfer dominiert.

Von Frank Jansen

Mehr Kommunikation wagen, um verlorenes Vertrauen wieder herzustellen - das ist nach Recherchen des Tagesspiegels der Tenor des Zwischenberichts der Expertenkommission, die sich auf Initiative von Innensenator Andreas Geisel (SPD) mit möglichen Versäumnissen bei den Ermittlungen zu der Serie rechtsextremer Anschläge in Neukölln befasst.

Das im Oktober von Geisel und Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) installierte Gremium hat am Freitag seinen ersten, 28 Seiten umfassenden Report den Senatoren übergeben. Mitglieder der Kommission sind die frühere Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, und Ex-Bundesanwalt Herbert Diemer, der die Anklage im NSU-Prozess vertrat.

Anschläge bis heute nicht aufgeklärt

"Die Kommission hat festgestellt, dass zwischen den Strafverfolgungsbehörden und den Betroffenen die Sichtweise auf die Tatserie und insbesondere deren Bearbeitung erheblich divergiert", heißt es im Bericht. Leichsenring und Diemer schlagen vor, Staatsanwaltschaft und Polizei sollten "unter weitestgehender Einbeziehung von Vertretern der örtlichen gesellschaftlichen Akteure und örtlicher Behörden wie etwa des Bezirksamts Neukölln" prüfen, die Kommunikation zu den Ermittlungen und der Vorbeugung weiterer Anschläge zu verstärken.

Mit dem Ziel, "das gegenseitige Verständnis und Vertrauen füreinander zu erhöhen, Verbindlichkeit zu schaffen und so gemeinsam gegen die der Tatserie zugrundeliegenden, seit Jahrzehnten bestehenden rechtsextremistischen Strukturen vorzugehen".

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Der Zwischenbericht wurde mit Spannung erwartet, da die Anschläge bis heute nicht aufgeklärt sind und der Druck auf Polizei, Verfassungsschutz, Justiz und damit auch auf den Senat wächst. Seit 2013 haben die Behörden mehr als 70 rechte Attacken registriert, darunter 23 Brandstiftungen. Einem Buchhändler, der sich gegen Rechtsextremismus engagiert, wurden gleich zwei Wagen angezündet. Die Hauptverdächtigen, die Neonazis Sebastian T., Tilo P. und Julian B., befinden sich auf freiem Fuß.

Leichsenring und Diemer legen im Zwischenbericht großen Wert auf einen sensiblen Umgang mit den Opfern der Anschläge wie auch mit den ermittelnden Beamten. Die beiden Experten haben von November 2020 bis zum Januar fünf Gespräche mit Geschädigten der rechten Angriffe geführt, weitere Treffen sind geplant. 

Die Namen der Betroffenen werden im Bericht offenbar bewusst nicht genannt. "Die Gespräche verliefen offen und sachlich, manchmal auch emotional", steht im Report. In allen Fälle gebe es eine "große Betroffenheit gepaart mit Bedauern und Unverständnis, dass die strafrechtlichen Ermittlungen bisher nicht zu einer Überführung der Tatverdächtigen geführt haben".

Verlust des Sicherheitsgefühls

Die beiden Experten gewannen den Eindruck eines "massiven Verlusts an Vertrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden und der Justiz, aber auch des Verlusts an Sicherheitsgefühl". Die Betroffenen der Anschläge äußerten "den Eindruck der falschen Einschätzung und Gewichtung der Straftaten sowie der mangelnden Sorgfalt bei den Ermittlungen bis hin zum Desinteresse". 

Kritisiert wurden auch die mehrmaligen Wechsel der Ansprechpartner bei der Polizei. Durch den Fall eines Beamten, der Ansprechpartner für die Neuköllner Geschädigten war und dann außerdienstlich einen Flüchtling rassistisch angriff, sei der gesamte Polizeiabschnitt in Misskredit geraten, heißt es. Die bei den Gesprächen der Kommission mit den Geschädigten hervorgetretenen Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Integrität von Polizeibeamten, schienen auf die gesamte Institution Polizei auszustrahlen.

Kritik an den Medien

Für Leichsenring und Diemer ist ein Teil der Medien nicht ganz unschuldig an dieser Eskalation. "Diese Vertrauen ruinierenden Zweifel beruhen auf Artikeln der Presse über einzelne Polizeibeamte, die eines Fehlverhaltens bezichtigt werden, das als feststehende Tatsache präsentiert wird, obwohl die entsprechenden behördlichen oder gerichtlichen Verfahren noch nicht abgeschlossen oder zu einem die Presseberichterstattung differenzierenden Ergebnis gelangt sind", heißt es im Bericht. 

Als Beispiel wird der Fall des Beamten des Landeskriminalamts genannt, der in einer Rudower Gaststätte einen der verdächtigen Neonazis getroffen haben soll. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen den Polizisten, die Vorwürfe ließen sich aber nicht belegen. Das Verfahren wurde eingestellt.

Im Bericht werden auch die Gespräche erwähnt, die Leichsenring und Diemer mit hochrangigen Beamten führten, darunter Polizeipräsidentin Barbara Slowik, LKA-Chef Christian Steiof, den Leiter des Verfassungsschutzes, Michael Fischer sowie Generalstaatsanwältin Margarete Koppers. Der Kommission wurden zahlreiche Daten zur Verfügung gestellt, vor allem von der Polizei. Nach der Sichtung ist für Leichsenring und Diemer zumindest der Verdacht ausgeräumt, rechtsextremistische Netzwerke in der Polizei hätten Dienstgeheimnisse weitergegeben und die Aufklärung der Straftatenserie verhindert.

Die beiden Experten regen im Bericht an, der Verfassungsschutz sollte nochmal prüfen, ob er weitere "Behördenzeugnisse", gemeint sind Erkenntnisse zu den Straftaten und den Tatverdächtigen, für Polizei und Generalstaatsanwaltschaft erstellen kann.

Polizei stellte selbst schon Versäumnisse fest

Gravierende Mängel bei den Ermittlungen der Polizei werden im Zwischenbericht nicht genannt. Das ist offenbar dem Schlussreport vorbehalten, den Leichsenring und Diemer im April vorlegen wollen. Mängel bei den Ermittlungen hatte allerdings die Polizei bereits selbst festgestellt. 

In einem Bericht der im Mai 2019 zum Neuköllner Komplex eingerichteten „Besonderen Aufbauorganisation Fokus“ werden mehrere Versäumnisse genannt. Das betrifft vor allem den Brandanschlag vom Februar 2018 auf den Wagen des Linken-Politikers Ferat Kocak, einen roten Smart. 

Die „Ermittlungsgruppe Resin“, Vorläufer der BAO Fokus, hatte im Protokoll eines abgehörten Telefonats der verdächtigen Neonazis den Namen Kocak falsch geschrieben. So konnten Hinweise auf eine Gefährdung des Politikers nicht zusammengeführt werden. Außerdem war ein Schriftsatz des Verfassungsschutzes zu Erkenntnissen über die Ausspähung von Kocaks Wagen durch Rechtsextremisten mit einer „Beschränkungsklausel“ versehen.

Das Resultat der Defizite: Die Polizei versäumte, Kocak durch gefahrenabwehrende Maßnahmen vor einem Anschlag zu schützen. In der Nacht zum 1. Februar 2018 ging der rote Smart in Flammen auf. Direkt neben dem Wohnhaus, in dem Kocak lebt. Und in derselben Nacht brannte auch das Fahrzeug des Neuköllner Buchhändlers Heinz Ostermann. Es war bereits Ostermanns zweiter Wagen, den mutmaßlich Neonazis attackierten.

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