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Fußgänger sollen es in Berlin künftig leichter haben.

© Kai-Uwe Heinrich

Update

Längere Grünphase, mehr Sitzbänke: Berlin beschließt bundesweit erstes Fußgängergesetz

Das Abgeordnetenhaus hat eine Ergänzung des Mobilitätsgesetzes beschlossen. Fußgänger sollen es in der Stadt leichter haben - vor allem die älteren.

Fußgänger sollen künftig sicherer und bequemer in Berlin unterwegs sein können. Eine entsprechende Änderung des Berliner Mobilitätsgesetzes hat das Abgeordnetenhaus am Donnerstagabend mit den Stimmen von Grünen, SPD, Linken und FDP beschlossen, nachdem sich die rot-rot-grüne Regierungskoalition auf zahlreiche Nachbesserungen des lange geplanten Vorhabens verständigt hat. Die CDU enthielt sich, die AfD stimmte dagegen.

Unter anderem soll es einfacher werden, Zebrastreifen, Mittelinseln und Spielstraßen auf Zeit einzurichten. Ampelphasen sollen fußgängerfreundlicher und die Bedürfnisse älterer Fußgänger stärker berücksichtigt werden.

Mit der Ergänzung des Mobilitätsgesetzes durch einen Fußgängerteil setzt Berlin nach Einschätzung von Verkehrssenatorin Regine Günther bundesweite Maßstäbe. „Mit dieser Novelle regelt ein deutsches Bundesland erstmals seine Fußverkehrspolitik auf gesetzlicher Grundlage“, sagte die Grünen-Politikerin vor der Verabschiedung der Gesetzesnovelle. „Der Fußverkehr bekommt dadurch einen ganz neuen Stellenwert.“

Den Antrag für die Erweiterung um Fußgänger hatten SPD, Linke und Grüne vor knapp einem Jahr eingebracht. Im Dezember wurde der Entwurf dann an vielen Stellen deutlich verbindlicher formuliert. Aus Sicht der Koalition ist die Gesetzesänderung ein weiterer Baustein für die Verkehrswende in der Hauptstadt und für eine Verkehrspolitik, die das Auto weniger in den Mittelpunkt stellt als zuvor.

„Zufußgehen ist die umweltfreundlichste Art, sich in der Stadt zu bewegen“, sagte Günther. „Die Förderung des Fußverkehrs ist daher immer auch ein Schritt hin zu einer lebenswerten Stadt.“ Dabei gehe es auch um Flächengerechtigkeit bei der Aufteilung des öffentlichen Raumes.

„Wir wollen Berlins Straßen und Plätze daher so fußgängerfreundlich wie möglich machen: mit ausreichend Platz, mit direkten Wegen, ohne Barrieren.“ Berlin setze so Standards für die Aufwertung des Fußverkehrs auch in anderen Städten

Fußgängerverein will mehr Polizeikontrollen bei Abbiegern

Auch für Roland Stimpel vom Fachverband Fußverkehr Deutschland (FUSS e.V.) ist das Vorhaben ein großer Schritt: Nachdem Fußgänger hundert Jahre lang zurückgedrängt worden seien, werde der Fußverkehr wieder ernstgenommen, sagte er. Denn bisher herrsche noch immer der Geist eines StVO-Kommentars von 1938, wonach der Langsamere auf den Schnelleren Rücksicht zu nehmen habe. Insofern sei das Gesetz ein "Meilenstein für den Stadtverkehr". Und es komme gerade zur rechten Zeit: "Während der Fußverkehr wächst, beschneiden zugleich Auto- und Radverkehr, Kommerz und Technik immer aggressiver seinen Raum. Corona zeigt besonders stark, dass der Raum zum Gehen oft schmerzhaft und gefährlich eng ist. Mehr Menschen gehen – und sind zum Drängeln gezwungen."

Im Unterschied zu den anderen Verkehrsarten wird der Fußverkehr nirgends in Berlin systematisch erfasst. Entsprechend dünn ist die Datenlage. Bekannt ist, dass im Coronajahr 2020 der Radverkehr noch einmal deutlich zugenommen hat, nämlich um rund 20 Prozent, und der Andrang in Bussen und Bahnen - mit starken Schwankungen - etwa um ein Drittel zurückging. Für den Autoverkehr liegt noch keine abschließende Auswertung vor; vorläufige Zahlen lassen einen leichten Rückgang erwarten. Laut einer repräsentativen Befragung der Verkehrsverwaltung von 2018 ist der Fußverkehr mit 30 Prozent aller zurückgelegten Wege die dominierende Verkehrsart in Berlin.

Als großen inhaltlichen Pluspunkt sieht der Fußverkehrslobbyist den Fokus auf mehr Sicherheit für Fußgänger wichtig. Dazu zählt für Stimpel unter anderem, dass die Polizei gefährliches Abbiegen von Autofahrern stärker kontrollieren und unterbinden soll. Tatsächlich sind Abbiegefehler seit Jahren die häufigste Unfallursache laut Statistik der Berliner Polizei. Und 19 von 50 Menschen, die im vergangenen Jahr auf Berlins Straßen getötet wurden, waren zu Fuß unterwegs. Zunehmend sind Senioren betroffen; wenige Stunden vor der Abstimmung über das Gesetz meldete die Polizei einen lebensgefährlich verletzten 79-Jährigen, der beim Überqueren des Hindenburgdamms in Lichterfelde angefahren worden war.

Aus Sicht des Fußgängerverbands ist auch zu begrüßen, dass vorgesehen ist, künftig mehr Sitzbänke in der Stadt aufzustellen - und zwar "ohne Konsumzwang", also abseits von Cafés und Restaurants. Für ältere Menschen, die manchmal nur noch einige hundert Meter gehen könnten, bevor sie sich ausruhen müssten, sei das ganz wichtig, sagte Stimpel.

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Dass es künftig eine Koordinierungsstelle Fußverkehr in der Verkehrsverwaltung geben soll, findet Stimpel ebenfalls gut. Berlins früherer Verkehrs-Chefplaner Friedemann Kunst bezweifelte in der „Berliner Zeitung“ (Mittwoch) allerdings, ob die Behörden den hohen Erwartungen der Bürger gerecht werden könnten. Fußverkehrsplanung sei Detailarbeit, die vor allem Personal binde. „Das alles ist mit den vorhandenen Ressourcen nicht zu leisten.“

Auch Stimpel betont, das Gesetzesvorhaben habe eine Schwachstelle: die Verwirklichung. „Man weiß von Gesetzen, speziell in Berlin, dass viele schöne Dinge beschlossen werden, dass es an der Umsetzung aber oft hapert“, sagte er. „Da werden wir drauf achten, und da werden wir kämpfen müssen.“ Zumal die laufenden Radverkehrsplanungen bisher allzu oft auf Kosten von Fußverkehrsbereichen etwa in Parks und an Gewässern gingen - offenbar um dem Autoverkehr keinen Platz wegzunehmen.

Mitte 2018 hatte das Berliner Abgeordnetenhaus das bundesweit erste Mobilitätsgesetz beschlossen. Es gibt dem öffentlichen Nahverkehr und dem Radverkehr Vorrang vor dem Autoverkehr und sieht unter anderem den massiven Ausbau der Radinfrastruktur vor. Nach dem Fußgängerteil, der nunmehr ergänzt wird, sollen noch weitere Abschnitte zum Wirtschaftsverkehr und zur intelligenten Mobilität folgen. (mit dpa)

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