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Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) Mitte Februar im Abgeordnetenhaus.

© Annette Riedl/dpa

Update

„Stufenplan ist keine Einbahnstraße“: Müller will Lockerungen und Verschärfungen an Inzidenzen von 35 und 50 ausrichten

Berlins Regierender Bürgermeister kündigt für die nächste Bund-Länder-Konferenz einen Stufenplan an. Zwei Inzidenzen sollen wichtig sein – und weitere Faktoren.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) will einen Stufenplan vorlegen, der eine schrittweise Öffnung des Lockdowns bereits ab einem Inzidenzwert von 50 vorsieht. Der „Stuttgarter Zeitung“ sagte er, er werde „einen Vorschlag ohne die Werte 10 oder 25“ machen, wie sie von einigen gefordert wurden. „Wir sollten nicht den Fehler machen und neue Zahlen formulieren", sagte Müller. Gleichzeitig sei es aber „jedem Bundesland unbenommen, noch ehrgeizigere Ziele zu setzen“.

In seinem Entwurf werde es vielmehr um Zeiträume mit Ansteckungsraten unter 35 oder 50 gehen, sagte Müller, der auch Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) ist. „Wenn Bundesländer stabil über mehrere Wochen diese Inzidenzen erreichen, können weitere Schritte in der Kultur und der Gastronomie folgen.“

Erkennbar ist damit eine leichte Akzentverschiebung: Müller hatte bisher immer vor zu frühen Lockerungen gewarnt und die 50er-Inzidenz als Minimalziel ausgegeben, um die Gesundheitsämter wieder arbeitsfähig zu machen. Noch in das letzte Gespräch von Bund und Ländern am 10. Februar war das Land Berlin mit einem Papier gegangen, das deutlich niedrigere Stufen für Lockerungen vorsah – nämlich 35, 25 und 10. Der Tagesspiegel hatte exklusiv über das Dokument berichtet.

Ab einer Inzidenz von 35 sollten demnach außerschulische Bildungsmöglichkeiten, der Einzelhandel sowie die Gastronomie wieder öffnen. Ab einer Inzidenz von 20 und niedriger sollten „Einrichtungen mit längerer Aufenthaltsdauer und festen Sitzplätzen“ sowie Hotels und Pensionen folgen. Ab der Inzidenz unter 10 sollten alle Fitnessstudios wieder öffnen können, außerdem fiele die Sperrstunde der Gastronomie weg.

25 und 10 „im Ergebnis nicht übernommen“

Als Abkehr von diesen früheren Plänen will die Senatskanzlei diese Äußerungen Müllers aber nicht verstanden wissen: Mit der Februar-Vorlage für die MPK habe Berlin als Vorsitzland versucht, „eine Grundlage für die gemeinsame Diskussion zu schaffen und dabei unterschiedliche Perspektiven zusammenzuführen“, sagte eine Sprecherin dem Tagesspiegel. Die Vorlage sei explizit ein Entwurf für die MPK und nicht für Berlin gewesen. „Mehrere Länder hatten weitere Stufen genannt, das hat Berlin im Ergebnis nicht übernommen.“ Die Vorlage sei als Ergebnis des Diskussionsprozesses angepasst worden.

Zugleich hält der Regierende Bürgermeister jedoch daran fest, nicht allein die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen zur Grundlage von Öffnungen zu machen.

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Neben der Inzidenz sollen demnach auch „dynamische Faktoren“ wie die Reproduktionszahl und die Intensivbettenkapazität berücksichtigt werden. Das sind genau die Kriterien, die neben der Sieben-Tage-Inzidenz Teil der Berliner Corona-Ampel sind, die dem Senat seit dem vergangenen Sommer bei der Einschätzung des Infektionsgeschehens helfen soll.

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Bei der Ampel ist der Grenzwert für die Inzidenz strenger als nun von Müller in Aussicht gestellt: Sie springt ab 20 auf Gelb und ab 30 auf Rot. Über diese Kriterien hinaus könnte bei einem Stufenplan „perspektivisch“ auch die Impfquote berücksichtigt werden.

Ein solcher Plan dürfe aber „keine Einbahnstraße“ sein, machte Müller deutlich. Neben Lockerungen kann er auch zu Verschärfungen auslösen. „Wir werden notfalls auch wieder Einschränkungen beschließen müssen, wenn die Zahlen wie in anderen europäischen Ländern wieder stark steigen.“

Berliner Amtsärzte wollen Maßnahmen an Altersgruppen festmachen

Auch die Amtsärzte aller zwölf Berliner Bezirke hatten am Wochenende gewarnt, Lockerungen allein an bestimmten Sieben-Tage-Inzidenzen festzumachen. „Diese Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab“, schrieben die Amtsärzte in einem Papier, das sie der Senatskanzlei schickten. Der Tagesspiegel berichtete exklusiv. Die Inzidenzen seien von Testkapazitäten und dem Testwillen der Menschen abhängig, argumentierten die Amtsärzte. „Dadurch kommt es zu Schwankungen, die nicht die infektiologische Lage widerspiegeln.“

Die Mediziner in den Gesundheitsämtern wollen die Corona-Regeln an den möglichen Konsequenzen einer Erkrankung ausrichten: intensive Prävention für Alte und Kranke, mildere Maßnahmen etwa für Schulkinder. Dafür soll es ein „Frühwarnsystem“ geben, das sich an Altersgruppen orientiert.

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„Eine Orientierung an Inzidenzzahlen ist weltfremd und hat nichts mit Epidemiologie zu tun“, sagte der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid, einer der Mitverfasser der Stellungnahme, dem Tagesspiegel. Die Zahl 50, sagt Larscheid, sei als Sicherheitsschwelle für Lockerungen genau so „an den Haaren herbeigezogen“ wie 35 oder 10: „Niemand weiß, woher die Politik diese Zahlen nimmt.“

Ihn stört die Kopplung von Maßnahmen an Inzidenzwerte, weil sie seiner Ansicht nach wenig über tatsächliches Pandemiegeschehen aussagen. „Eine Inzidenz von 300 ist für ein Gesundheitsamt kein Problem, wenn sie zum Beispiel auf große, aber gut eingrenzbare Ausbrüche in Pflegeheimen zurückzuführen ist. Da haben wir mit kleineren, diffus verteilten Ereignissen viel mehr Sorgen und Arbeit. Als politische Größe ist der Inzidenzwert deshalb denkbar ungeeignet.“

Amtsärzte sorgen sich um die Kinder

Larscheid und seine Kolleg:innen sprechen sich deshalb für Maßnahmen aus, die auf einer differenzierten Betrachtung der Infektionslage beruht, nicht auf Inzidenzwerten. Nicht um die Höhe der Zahl an sich soll es gehen, sondern etwa um eine Analyse der Infektionszahlen anhand der Altersgruppen und den möglichen Folgen einer Erkrankung, aber auch des Lockdowns für sie.

„Es ist zu schematisch zu sagen, bei einem gewissen Inzidenzwert könne es gar keine Diskussion darüber geben, die Schulen zu öffnen“, sagt Larscheid. „Wir kennen die Zahlen und können sagen: Es ist absolut vertretbar, wenn die kleinen Menschen unter 12 Jahren mit einem ordentlichen Schutzkonzept in die Kita und in die Schule gehen, während gleichzeitig in Pflegeheimen oder Sammelunterkünften, wo sich Erwachsene aufeinanderdrängen, strenge Infektionsschutzmaßnahmen gelten müssen“, sagt Larscheid.

Die Amtsärzte haben nicht nur Corona-Infektionen im Blick: Bei einer schematischen Berücksichtigung des Inzidenzwertes bei Schul- und Kitaöffnungen etwa fielen zu viele Kinder durchs soziale Netz – und die Folgen davon, sagt Larscheid, müssten dann auch wieder die Gesundheitsämter ausbaden.

Die Regierungschefs der Bundesländer und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatten am 10. Februar bekräftigt, eine Öffnungsstrategie erarbeiten zu wollen. Der Plan soll beim nächsten Treffen von Bund und Ländern am 3. März diskutiert werden. (mit dpa)

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