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Der Psychologe Helmut Kentler vermittelte Anfang der 70er im pädagogischen Beirat des Senats Kinder bewusst an bekannte Pädophile.

© ullstein bild - Ingo Barth

Nach jahrelangem Missbrauch: Opfer des Kentler-Experiments kämpfen um Entschädigung

Opfer des sogenannten Kentler-Experiments, ehemalige Pflegekinder, kämpfen seit Langem um Schmerzensgeld. Jetzt naht eine Lösung.

Für zwei der ehemaligen Pflegekinder, die im Rahmen des sogenannten Kentler-Experiments in die Obhut von Pädosexuellen gegeben wurden, zeichnet sich eine Einigung ab, eine außergerichtliche. Zwei der Opfer sollen bald vom Land eine Entschädigung für ihre Leiden erhalten.

Damit hätte ein bürokratisches und formaljuristisches Hin und Her um das Schmerzensgeld, um das die beiden Opfer seit Langem kämpfen, ein Ende. Die Verantwortung für die Frage einer Entschädigung wurde bisher zwischen dem Senat für Bildung, Familie und Jugend und der Finanzverwaltung hin- und her geschoben. „Es wird zielgerichtet daran gearbeitet, dass es eine Lösung gibt, die den Interessen von den Betroffenen gerecht wird“, sagt Iris Brennberger, Sprecherin der Bildungsverwaltung. Wie die Entschädigung detailliert aussehen wird und wer sie genau bezahlt, ist noch offen.

Einer der Betroffenen hat vor Kurzem Amtshaftungsklage gegen das Land Berlin erhoben. Er möchte nicht bloß Schmerzensgeld, er will auch, dass die Rolle der Behörden genau untersucht wird. Das andere Opfer streitet noch juristisch um Prozesskostenhilfe. Der Anwalt eines der Betroffenen möchte Schmerzensgeld, das „100.000 Euro nicht unterschreiten sollte“, zuzüglich Zinsen. Zudem soll er eine Lebensrente von monatlich 2500 Euro erhalten, beginnend ab 29. April 2001.

Die Opfer nennen sich Marco und Sven, sie wollen anonym bleiben. Sie gehören zu einer Gruppe von vielen Leidensgenossen. Der Sozialwissenschaftler Helmut Kentler, in den 1960er und 1970er-Jahren als revolutionärer Sexualpädagoge gefeiert, war der geistige Vater des Projekts, bei dem Jugendämter Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen zu pädosexuellen Männern vermittelten. Sie waren jetzt als Pflegeväter direkt verantwortlich.

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Diese Männer, sagte Kentler, nähmen „die schwachsinnigen Kinder“ gerne auf, weil sie eben „in sie verliebt, verknallt und vernarrt waren“. Sie sorgten angeblich für emotionale Zuwendung. Dass die Pflegeväter sexuellen Kontakt zu den Kindern hatten, nahm Kentler in Kauf.

Die Senatsverwaltung finanzierte das „Experiment"

Das war das Experiment. Es dauerte jahrzehntelang, bis in die früheren 2000er Jahre. Die Senatsverwaltung für Jugend und Familie schätzte Kentler, sie finanzierte mehrere Pflegestellen bei Pädosexuellen. Kentler starb 2008.

Marco und Sven kamen zu dem vorbestraften, alleinerziehenden Fritz K. Dem vermittelten die Jugendämter Kreuzberg und Schöneberg zwischen 1973 und 2003 insgesamt neun Jungen. Schon 1980 wurde gegen Fritz H. wegen Kindesmissbrauchs ermittelt. Marco und Sven wurden von Fritz H. missbraucht.

Die anderen Opfer wollen nicht in die Öffentlichkeit oder ihre Namen fehlen komplett in den Akten. Alle sind im Nachhinein erschüttert, Abgeordnete, die Bildungssenatorin Sandra Scheeres, andere Behördenvertreter, Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen sexuellen Missbrauchs, die Öffentlichkeit sowieso.

Aber der Fall Marco und Sven ist auch ein Lehrbeispiel, wie Moral, Empörung und der Wille zur Hilfe mit Gesetzen, Normen und Vorschriften kollidiert.

Marco und Sven sollen für ihr Leiden entschädigt werden, da sind sich alle einig, aber wie? Rein juristisch ist es schwer für sie, Schmerzensgeld zu erhalten. Das ist das Problem in diesem Fall. Fritz H. starb 2015, deshalb laufen gegen ihn keine strafrechtlichen Ermittlungen mehr. Auch die Ermittlungen gegen einen Mitarbeiter des betroffenen Jugendamts sind eingestellt. Für die Staatsanwaltschaft gab es keine Hinweise auf eine Mittäterschaft des Mannes.

Besteht Anspruch auf Schadensersatz durch das Zivilrecht?

Strafrechtlich ist alles durch, aber ist zivilrechtlich alles verjährt? Diese Frage könnte ein Gericht klären, dann wäre auch klar, ob Marco und Sven Schadensersatzansprüche hätten. Aber damit der Fall vor Gericht geht, müsste das Land auf die Einrede der Verjährung verzichten.

Doch die so bedeutsame Einrede wird nicht kommen. „Die Senatsfinanzverwaltung hat auf Bitte der Bildungsverwaltung geprüft, ob im Rahmen eines eventuellen Klageverfahrens das Land Berlin auf die Geltendmachung der Einrede der Verjährung verzichten kann und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass dies aus prozessualen und haushaltsrechtlichen Gründen nicht möglich ist“, teilt eine Sprecherin der Finanzverwaltung mit. „Im Fall einer außergerichtlichen Lösung ist es denkbar, Zahlungen aus einem Opferfonds zu leisten.“ Die Finanzverwaltung bringt dafür den Fonds „Ergänzende Hilfssystem“ ins Spiel.

Das Ergänzende Hilfesystem (EHS) ist vor Jahren für Opfer des sexuellen Missbrauchs eingerichtet worden. Aus diesem Topf werden unter anderem Sachleistungen, Ausbildungskosten, Führerschein oder Gesundheitsausgaben für Betroffene bezahlt. Doch mit Schmerzensgeld, das sich Marco und Sven vorstellen, hat dieser Fonds erstmal nichts zu tun. Pro Person werden auch nur maximal 10.000 Euro bezahlt. „Da fließt kein Bargeld, da werden Betroffenen wichtige immaterielle Hilfeleistungen erstattet“, sagt Rörig.

Ein Betroffener habe diese Leistungen beantragt und bewilligt bekommen, ein weiterer Betroffener habe keine Leistungen beantragt, teilte die Sprecherin der Bildungsverwaltung mit. Aber er könne es jederzeit. Zudem könnten generell Opfer einer Gewalttat Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) beantragen. Ein Betroffener habe dies getan.

Die Finanzverwaltung bleibt bei ihrer Einschätzung

Zwischen der Finanz- und der Bildungsverwaltung gab es Diskussionen über die Frage der Einrede der Verjährung. SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres schrieb ihrem Parteifreund, Finanzsenator Matthias Kollatz, sie „bedauere“, dass das Land nach Aussage der Finanzverwaltung rechtlich gehindert sei, „auf die Einrede der Verjährung zu verzichten. Ich (...) bitte noch einmal unter fachpolitischen Erwägungen, die Entscheidung in dieser besonderen Fallkonstellation zu überdenken.“ Die Finanzverwaltung bleibt bei ihrer Einschätzung.

Deshalb bleibt jetzt als unkomplizierte Lösung nur die außergerichtliche Einigung. Johannes-Wilhelm Rörig sagte dem Tagesspiegel: „Man kann sich einigen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht und in Anerkennung des Leids der Betroffenen.“ Rörig ist intensiv eingebunden in die aktuellen Diskussionen, um eine angemessene Entschädigung. Die Opfer sind heute gebrochene Menschen, kaum oder gar nicht fähig zu arbeiten.

Auch Katrin Seidel, Sprecherin für Jugend, Familie und Verbraucherschutz der Linken im Abgeordnetenhaus, hat eine klare Meinung. „Jenseits der juristische Dimension, gibt es eine moralische Verantwortung, die hier Priorität hat“, sagt sie.

Für Marianne Burkert-Eulitz, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, die sich seit Jahren für Kinderrechte einsetzt, ist der Fall ebenfalls klar: „Der Staat hat Kinder an Pflegeväter gegeben, obwohl er wusste, das sie Täter sind. Deshalb müssten Ausnahmen für die gerichtliche Aufklärung gefunden werden.“ Doch die wird wohl nicht kommen.

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