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Nachruf auf Dagmar Beiersdorf: Eine Frage der Selbstachtung
Eigentlich interessierten sie nur Außenseiter. Vielleicht, weil sie selber eine Außenseiterin war, wenn auch eine dominante
Stand:
Im September 1978 verlässt Dagmar Beiersdorf gemeinsam mit ihrem Freund Lothar Lambert den Sexshop im Europa-Center. Beide sind erotisch sehr begeisterungsfähig, wobei er vor allem Männer liebt, was eine tiefe Verehrung der weiblichen Brust nicht ausschließt, für die ihre ganz besonders. Egal wie, Lothar Lambert wüsste nicht, mit wem er lieber das Angebot eines Sexshops begutachten und die Konkreta seiner Anwendungen diskutieren würde. Mit ihr lebte das Leben.
Beide haben auch schon Aufmerksamkeit im deutschen Kino erregt, vor allem durch die ungewohnte Direktheit der Sexszenen, wobei die Ausführenden nie zur Mitte der Gesellschaft zählen. Auffällig sind auch ihre Produktionsbedingungen: Low-low-Budget, könnte man sagen. Weshalb er nach Möglichkeit in ihren Filmen mitspielt und sie in den seinen. Noch hat sie aber erst einen gedreht, „Puppe kaputt“, ein Jahr zuvor. Sie ist auch seine Kamerafrau und seine Regieassistentin.
Beim Verlassen des Sex-Shops schauen sie wie nebenbei auf die große Kunsteisbahn im Europacenter. Fortschritt ist, wenn der Berliner auch im Sommer Schlittschuh fahren kann, glaubte man damals. Dagmar Beiersdorf und Lothar Lambert bemerken zwei Wachschützer mit Hund, die zwei Araber auffordern zu gehen. Dabei schauen die genauso zu wie alle übrigen Passanten. Wenig später nehmen die Wachschützer dem Hund den Maulkorb ab, und Dagmar Beiersdorf weiß, dass sie jetzt hingehen und etwas sagen muss, etwa über das universelle Menschenrecht des Zuschauens. Kurz darauf finden sie sich gemeinsam auf der Straße wieder, das Sexshop-Paar und die beiden Araber. Und ein kurzes Wetterleuchten an den Rändern ihres Bewusstseins deutet Dagmar Beiersdorf an, wer in ihrem nächsten Film auftreten wird.
Ein Spezialfall der Ehe aus Berechnung
Und in ihrem Leben? Dass sie niemals heiraten und niemals Kinder bekommen will, gehört zu ihren Grundgewissheiten. Vielleicht auch, weil sie 1944 inmitten des großen Sterbens geboren wurde. Ihr Vater, ein SS-Mann, fiel 1944. Aber nun heiratet sie doch. Sie sagt Ja! zu einem der beiden Europa-Center-Vertriebenen. Sie sagt Ja! zu dem fast 20 Jahre jüngeren Libanesen Mustafa Iskandarani, damit der deutsche Staat nicht Nein! zu ihm sagen und ihn zurückschicken kann in den Libanon. Es handelt sich um einen Spezialfall der Ehe aus Berechnung. Damals können beide noch nicht ahnen, dass sie zusammenleben werden, besser und tiefer als die meisten Ehepaare. Und auch genauso lange wie vorgesehen: Bis dass der Tod sie scheidet.
Kurz nach dem Zwischenfall im Europacenter ist sie auf Motiv-Suche am Kudamm-Karree und fühlt sich beobachtet. Ihr Blick begegnet den kalten Augen der Verkäuferin von der Würstchenbude. Welche Herablassung, ja Verachtung trifft sie da. Aber warum? Sie kennen sich nicht. Bald ahnt die Underground-Filmerin, dass diese junge Frau die Welt mit all ihrem Inventar, zu dem offenbar auch sie zählt, noch nie anders angeschaut hat. Von diesen Augen, die nie eine Kindheit kannten, will sie mehr wissen.
1982 läuft Dagmar Beiersdorfs zweiter Spielfilm „Dirty Daughters“ auf der Berlinale. Viele sagen, es ist ihr bester. Er handelt von zwei Verlierern des Lebens, von der Würstchenbudenfrau, die hauptberuflich Prostituierte ist, und von einem jungen Araber sowie der Unmöglichkeit, aneinander Halt zu finden. Hot Chocolates „Put your love in me“ liegt über dem anfangs wortlosen Film, sich in jeder Note mit den Bildern verbindend.
Eigentlich interessieren sie nur Außenseiter. Vielleicht, weil sie selber eine Außenseiterin war, oft gar nicht spürbar, manchmal freiwillig, manchmal unfreiwillig, und das begann schon früh, in der eigenen Familie. Dabei waren sie nur zu dritt, die Mutter, ihr Bruder und sie. Der Bruder zählte, sie eher nicht. Männer begründen die Tradition einer Familie, eine Adelstochter weiß so etwas. Dagmars Mutter war eine geborene von Kaehne, die Tochter hat den Familienring mit den drei Kähnen darauf immer bewahrt.
Eine Adelstochter weiß auch, wie man Befehle erteilt. Lothar Lambert würde einmal alle Mühe haben, sich vor der Mutter seiner Freundin nicht zu fürchten. Und bei all dem bemerkte er, wie stark der Zusammenhalt beider Frauen dennoch war und immer bleiben würde. Ein tägliches Telefonat war das Mindeste. Menschliche Bindungen gehorchen fast nie einer einfachen Logik. Und trug Dagmar nicht auch unverkennbar Züge ihrer Mutter?
Sie konnte sehr bestimmt, beinah autoritär sein. Nur einmal haben Lothar Lambert und sie zusammen Regie geführt, in dem vergleichsweise üppig budgetierten Fernsehfilm „Der sexte Sinn“. Regisseur ist der, der sagt, wo es langgeht. So sehen das die meisten, sie auch. Lambert als Regisseur ist eher der, der zuschaut, wo es lang geht. Und das macht ihm dann meistens viel Freude. Am Ende hatte der „Der sexte Sinn“ folglich nur noch eine Regisseurin. Nie wieder!, sagten beide. Dabei hatten sie für den „Sexten Sinn“ schon Udo Lindenberg als Transvestiten besetzt, und der sah großartig tuntig aus, als er aus der Maske kam, aber schließlich hat ihm sein Management wohl erklärt: Udo, das machst du besser nicht!
Aber nicht nur Lothar Lambert, auch ihr Ehemann begriff, was es heißt, mit Dagmar Beiersdorf zusammen zu sein: Mustafa, du gehst nicht allein nach Ost-Berlin!, erklärte sie ihm nach 1989. Da ist es zu gefährlich!
Sterbehilfe für todkranke Enten
Anfangs hatte sie ihn nur bei sich aufgenommen, weil er irgendwo bleiben musste, und schließlich war er, nunja, ihr Mann, irgendwie. Inzwischen hatte Mustafa Iskandarani längst gelernt, auf seine Frau zu hören. Und manchmal lernte er dabei auch erstaunliche Dinge über sich, etwa als sie ihm, dem Automechaniker, rundweg verbot, weiterhin in dieser ausbeuterischen Werkstatt zu arbeiten. Es sei eine Frage der Selbstachtung. Aber was sollte er anfangen ohne sein Werkzeug und ohne die kaputten Autos? So griff Mustafa Iskandarani statt zum Schraubenschlüssel zum Pinsel und malte van-Gogh-, Picasso- und Manet-Bilder, als hätte er nie etwas anderes gemacht.
Er hätte ein erfolgreicher Kunstfälscher werden können, aber seine Frau fand, jeder Maler hat die Pflicht, seine eigenen Bilder zu malen. Also machte er das und verkaufte nicht schlecht. Irgendwann malten alle in Mustafa Iskandaranis Umgebung, seine Frau und auch Lothar Lambert. Durch lauter Nachgiebigkeit hatte er eine kleine Malerkolonie gegründet.
Gibt es denn dominante Außenseiter? Ganz gewiss, denn wer sonst hätte einen ganzen Filmstab dazu bringen können, große italienische Käfer über eine italienische Straße zu tragen? Damit sie nicht überfahren wurden. Diese Käfer waren die größte Landplage der Gegend, aber niemand traute sich, der Retterin das zu sagen. Sie hätte es wohl auch nicht verstanden. Sie misstraute denen, die darüber entscheiden wollen, wer eine Landplage ist, egal ob Menschen oder Käfer. Und sie zögerte nicht, todkranken Enten aktive Sterbehilfe zu leisten.
Es war eine giftige Algenplage im Königssee. Mit einem Boot ruderte sie hinaus und tauchte halbtote Enten unter Wasser, die schon zu viel von dem tödlichen Brei gefressen hatten. Bis sie aufhörten, mit den Flügeln zu schlagen. Lothar Lambert wird es nie vergessen, er hätte das nicht gekonnt. Sie ertrug fremdes Leiden nicht. Darum baute sie streunenden Katzen im Winter auch kleine Holzhütten gegen die Kälte. Vor dem Gasthaus Nikolskoe am Wannsee gab es besonders viele Katzen, also standen da bald auch besonders viele Hütten. Feindselig schauten die Gastronomen.
Als Dagmar Beiersdorf „Dirty Daughters“ drehte, wollte sie natürlich, dass die junge Frau mit den eiskalten Augen sich selber spielt. Sie hatte schon als kleines Mädchen zuschauen müssen, wie ihre Mutter Freier empfing. Aber da bekam die Regisseurin es mit dem Zuhälter zu tun. Also spielte Dagmar Beiersdorf die Kaltäugige selbst, Lothar Lambert war ihre beste Freundin, die Beschützerin, eine Tunte. In dieser Rolle hatte Dagmar Beiersdorf ihn immer am liebsten, gerade in seiner komisch versetzten Mütterlichkeit. Und ihr Mann Mustafa war der libanesische Asylbewerber; in Lamberts Filmen befand er sich im Dauereinsatz ebenso wie im nächsten Film seiner Frau, „Wolfsbraut“.
Dagmar Beiersdorf machte insgesamt vier Filme, Lambert über 40. Sie hatte nie die Unbedingtheit, die man als Regisseurin vielleicht haben muss. Als junges Mädchen schrieb sie Gedichte voller Abschied, voller Verwunderung, dass man weiteratmet, wenn man verlassen wurde, das, was alle jungen Menschen empfinden, wenn sie nur genug Membranen zur Weltaufnahme haben. Sie wollte mit Romanen weitermachen, da konnte es nicht falsch sein, Publizistik zu studieren. Und Theaterwissenschaft vielleicht? Zum Film kam sie, als sie abends in der Kneipe einen Außenseiter kennenlernte. Einen richtigen Arbeiter! Wer in Steglitz aufwächst und aus nicht unbegütertem Haus stammt, trifft so einen nicht alle Tage.
Vielleicht, hatte sie befürchtet, sind Arbeiter ein wenig beschränkt, ebenso wie die Tätigkeit, der sie nachgehen. Aber dieser nicht, der war originell, voller Pläne. Leider war er dann doch kein Arbeiter, wie sich bald herausstellte, der junge Linksintellektuelle absolvierte gerade einen Kamerakurs. Aber da war es schon zu spät. Dagmar verzieh Wolfram Zobus die Lüge, schenkte ihm vom Geld ihrer Mutter eine Kamera und machte sich Sorgen, mit wem ihr neuer Freund sich traf, wenn sie gerade nicht da war.
Andere hätten es bei den Sorgen belassen, sie aber klingelte bei seinem Weddinger Nachbar, der im selben Kamerakurs war, Lothar Lambert. Sie glaubte auch an das Grundrecht auf Information und erfuhr, dass etwa die Großnichte von Asta Nielsen oben ein und aus ging. Das war keine ideale Voraussetzung für das erste Zusammentreffen der beiden Frauen, aber dann spielte Heidi Nielsen in Dagmar Beiersdorfs erstem Film.
Beim Fernsehen war alles zu groß
Alle um sie herum hatten plötzlich mit Film zu tun, also beschloss Dagmar Beiersdorf statt eines Romans ein Drehbuch zu schreiben. Es hieß „Alle Mädchen heißen Mäuschen“, und handelte von einem Mädchen, das kein Mäuschen mehr sein wollte. Leider wollte das niemand verfilmen.
Das Drehbücher-Schreiben lag auch nahe, seit sie in den Semesterferien beim SFB erschienen war mit der Ankündigung: Ich bin Dagmar Beiersdorf, ich mache alles! So wurde sie Gehilfin der Buchhaltung, Skriptgirl und immer wieder Regieassistentin. Nie dachte sie daran, den Zusatz „-assistentin“ in ihrem Tätigkeitsprofil zu streichen. Jedenfalls nicht beim Fernsehen, da war alles zu groß. Sie brauchte den beinahe familiären Rahmen unbedingter Vertrautheit in ihrer Regiearbeit, so wie sie auch Anfragen, in anderen als Lamberts Filmen aufzutreten, ablehnte.
Es gibt Menschen, für die sind andere nur Stationen auf ihrem Weg. Sie gehen, ohne sich noch einmal umzudrehen. So ging ihr Nicht-Arbeiter-Freund Zobus, der mit Lambert seine ersten Filme gemacht hatte. In seinen neuen Plänen kamen Dagmar Beiersdorf und Lothar Lambert nicht mehr vor. Sie waren zwei Zurückgelassene und kamen sich sehr nahe. So begann ihre Lebens-als-Arbeitsfreundschaft.
Aber in den letzten Jahren, fast Jahrzehnten hatte Lothar Lambert das Gefühl, jetzt würde auch sie ihn zurücklassen. Genauso wie sie ihre Filmzeit zurückgelassen hatte, ohne Bedauern, nach „Eine Tunte zum Dessert“ 1991. Auch sie konnte Lebenstüren einfach zuschlagen. Mit Skepsis sah Lothar Lambert, wie sie anfing, Gründerzeitmöbel zu sammeln. Sie ließ sich nicht davon entmutigen, dass sich die Maße des Buffets ihrer Wahl in akutem Missverhältnis zur Deckenhöhe ihrer modernen Wohnung befanden. Was oben zu viel war, sägte sie ab.
Mustafa und sie malten, das schien ihr zu reichen. Sie ging nirgendwo hin, sie rief nicht an. Um sie zu sehen, brauchte Lothar Lambert einen guten Grund: Du musst meine Wäsche waschen! Das sah sie ein. Aber als die Wäsche fertig war, bat sie ihn nicht, länger zu bleiben. Wie konnte aus einem so lebensvollen, herzlichen Menschen wie ihr plötzlich ein Eremit werden?
Als ihr Mann starb, plötzlich an einem Herzinfarkt, war sie tief erschüttert: und malte weiter, jetzt für zwei. Nur dass sie nun auch noch kochen, einkaufen und saubermachen musste. Das Leben ist voller Zumutungen.
Als im letzten Sommer in vier Berliner Kinos zwei Monate lang ein kleines Festival lief mit den Filmen von LoLa (Lothar Lambert) und DaBei (Dagmar Beiersdorf) – „queeres West-Berliner Undergroundkino“ – ging sie nicht hin. Zu Hause schaute sie vor allem Tier-Filme und stellte sich Wecker mit den Anfangszeiten, so konnte sie keinen verpassen.
Bei ihrem letzten Telefonat sagte sie zu Lothar Lambert, dass sie nun wahrscheinlich taub werde. Ganz taub. Hieß das, sie würde im Frühling im Grunewald nicht mehr die Vögel hören am Morgen? Dass sie die Menschen nicht mehr verstünde, war ihr egal. Es gibt Untertitel im Fernsehen, versprach Lambert. Sie schwieg. Und dann sagte sie noch, dass sie ihn liebhabe. Er merkte auf, sie gehört nicht zu den Menschen, die zu solchen Auskünften neigen. Und wenn sie nicht ans Telefon gehe, soll er nicht gleich wieder anrufen, sondern besser ein paar Tage warten.
Dagmar Beiersdorf ist aus dem Leben gegangen wie ihre Mutter. Es ist genug, hatte die Mutter gesagt. Die Tochter war bei ihr, sie hielt ihre Hand, bis die Tablette wirkte und noch länger. Dagmar Beiersdorfs Hand hat niemand gehalten.
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