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Ilona Maria Hilliges

© privat

Nachruf auf Ilona Maria Hilliges: Grenzen sind zum Überschreiten da

Sie trug die Maske des Leoparden, sie tanzte die Tänze der Frauen, unbeholfenen, aber ohne Scheu

Stand:

Zwei Männer werden sterben“, sprach das Orakel in Gestalt der schwarzen Priesterin Odame. „Und ein Kind. Es gehört zu dem Mann, der dir am nächsten ist.“ Im Dorf der Frauen, tief verborgen im Dschungel Nigerias, war Ilona in einem vierzehntägigen Crashkurs eingeweiht worden in die Mysterien der Ahnen, denn der Thronfolger des Stammes wollte ausgerechnet sie an seiner Seite wissen, eine Deutsche, geschieden, Mutter zweier Kinder. „Das Orakel sagt dir den Weg, den dein Leben gehen wird. Das ist seine Aufgabe. Deine Aufgabe ist es, daraus zu lernen, um deinen Weg zu ändern. Wenn du deinen Lebensweg änderst, wird nicht eintreten, was das Orakel sieht.“

„Wie kann ich das?“, fragte Ilona verängstigt.

„Ihr Weißen wollt Konflikte mit dem Kopf lösen“, sprach Odame. „Hier hast du gelernt, dass eine Meinungsverschiedenheit nur mit der anderen Person zu lösen ist.“

Aber was, wenn die andere Person mit aller Macht deinen Untergang will?

Ilonas Geschichte, die sie selbst unter dem Titel „Die weiße Hexe“ niedergeschrieben hat, begann 1972 in München, als die Welt zu Gast bei den Olympischen Spielen war. Ilona traf John, der aus Nigeria kam, ein Himmelsstürmer, der große Träume hatte und einen unwiderstehlichen Charme. Er half ihr aus ihren „Hemmungen heraus wie aus einem zu engen Korsett. Sein Stolz auf sie gab ihr Selbstbewusstsein.“ Ilona hatte Betriebswirtschaft studiert, ihr bot sich eine Karriere in einer großen Firma an, aber das schien nun plötzlich alles viel zu klein gedacht.

Endlich Karriere

John wiederum wollte Pilot werden, aber in Deutschland fand er keinen Ausbildungsplatz. Grenzen sind zum Überschreiten da, dachten beide, heirateten gegen den Willen ihrer Eltern und übersiedelten nach Kanada, aber auch dort war John nicht willkommen. In London würde es besser werden, hoffte er, und so zogen sie weiter. Ilona begann ein Studium der internationalen Sozialwissenschaft, jobbte nebenher, eine Tochter und ein Sohn kamen zur Welt, aber John fand keine Anstellung in England. Von einem Tag auf den anderen verschwand er nach Nigeria, um von dort aus Geschäfte in Gang zu bringen, die viel Geld einbringen sollten, so sein Versprechen. Was Ilona erst später erfuhr, John hatte schon eine Ehefrau in seiner Heimat, von der er sich ihr zuliebe trennen wollte. Denn für ihn gehörte Polygamie zur Tradition, sie war so selbstverständlich wie die Beschneidung junger Mädchen.

Ilona kehrte der Kinder wegen zu ihren Eltern zurück, die dieses Ende natürlich schon immer geahnt hatten. Ihr Vater war ein mäßig erfolgreicher Kaufmann, geboren als uneheliches Kind, ein schwacher, schwankender Charakter. Die Mutter war Krankenschwester gewesen, hatte sich bei der Pflege von kriegsversehrten Soldaten mit Tuberkulose angesteckt, kränkelte zeitlebens. „Du musst jetzt auf die Mama aufpassen“, hatte der Vater Ilona ermahnt, da war sie drei Jahre alt. Fortan wusste sie, sie wollte stark sein, für beide.

Ilona reichte die Scheidung von John ein, fand eine Anstellung in einem großen Konzern; sie würde nun endlich Karriere machen. Da tauchte John plötzlich wieder auf. Absichtsvoll an Weihnachten, um die Kinder zu überraschen. John hatte große Pläne: Autoexport von Deutschland nach Nigeria, billig einkaufen, teuer verkaufen. Der Vater war begeistert, sah seinen Ex-Schwiegersohn mit neuen Augen, bis er gemeinsam mit ihm afrikanischen Boden betrat. Lagos die größte Stadt des Landes, damals schon ein Moloch. Nigeria selbst vier Mal so groß wie Deutschland, 250 Stämme und Volksgruppen, das Land reich an Öl und anderen Bodenschätzen, die bei Geschäftemachern maßlose Habgier geweckt hatten. Im Großen wie im Kleinen Korruption. Jeder hielt die Hand auf, noch bevor auch nur ein Auto verkauft war. Ilonas Vater verzweifelte und kehrte zurück nach Deutschland. Die Schulden vom Ankauf der Autos blieben. Also beschloss Ilona im März 1981 selbst nach Lagos zu fliegen, um die Geschäfte zu richten. Sie blieb drei Jahre. Denn sie traf ihren Prinzen. Victor war der Sohn eines mächtigen Stammeshäuptlings aus dem Nigerdelta, der selbst mit einer weißen Frau verheiratet gewesen war. Einer Engländerin, adlig, die nichts mehr von Afrika wissen wollte.

Ein Oxford-Prinz

Victor war der einzige Schwarze, der die mütterliche Villa in London noch durch den Vordereingang betreten durfte. Er wurde in England und der Schweiz auf Internaten erzogen, hatte in den USA Ingenieurwesen und Marktwirtschaft studiert, spielte Polo, und fühlte sich als Brite. Ein Oxford-Prinz, der im Maßanzug aus der Bond Street und in Schuhen aus Mailand wie ein Heimatloser in den Straßen von Lagos umherlief. Er sollte König werden, den Vater beerben, die Familiengeschäfte im ölreichen Delta weiterführen. Was für eine Chance, den Wohlstand gerechter zu verteilen. „Künftiger König“ Victor teilte Ilonas Enthusiasmus nicht. „Ich stand auch schon vor der Tür zu einer Diskothek, in der man mich nicht kannte. N. dürfen hier nicht rein, fuhr mich der Türsteher an. Ich bin dem Typ heute noch dankbar, auch wenn sich das seltsam anhört. Solche Erfahrungen prägen, weil sie Grenzen aufzeigen. Für die einen bin ich ein künftiger König, für die anderen eben nur ein N.“

„Sagen Sie das nicht so, Victor! Die Welt ist voller Dummköpfe!“

„Richtig, Ilona. Und es ist gut, wenn man das am eigenen Leib erfahren hat, bevor man König wird.“

„Sie werden ein guter König“, prophezeite ihm Ilona. Aber sie sollte sich täuschen. Denn das Orakel behielt Recht.

Victor kannte weder Land noch Leute, und er sah herab auf die Bräuche der Ahnen, Hokuspokus, wie der Abwehrzauber, den sein eifersüchtiger Onkel gegen ihn aufbot, weil er allein die Geschicke des Stammes führen wollte. „Voodoo-Kram!“, spottete Victor. „Lachhaft! Ist es schwarze Magie, einem Hund die Kehle durchzuschneiden? Oder einen unschuldigen Stallburschen zu erstechen?“ Es war beides, nackte Gewalt und Voodoo, denn der Onkel scheute vor keinem Mittel zurück, um sich seines Erfolgs im Erbfolgekampf zu versichern.

Victor starb mit seinem Vater bei einem Flugzeugabsturz. Ilona verlor das gemeinsame Kind, sei es durch schwarze Magie oder durch Gift. „Unsere Liebe war so stark und unser Glück so nah, so unglaublich nah. Wir hatten fast danach greifen können.“

Wer die Macht der Ahnen leugnet, der setzt sein Leben aufs Spiel

Aber Victors Tragödie wurde nicht zu ihrer Tragödie. Denn anders als er hatte sie in Afrika etwas gelernt. „Wir stehen auf den Schultern unserer Ahnen“, wir sprechen mit den Ahnen, die Ahnen sprechen zu uns, und wer die Macht der Ahnen leugnet, der setzt sein Leben aufs Spiel. Das klingt nach Voodoo, aber Voodoo ist auch nur ein anderes Wort für die Macht des Glaubens. Wer den Glauben verliert, begriff Ilona, verliert sich selbst und wird zur Fremden.

Als Ilona in das Dorf der Frauen kam, um sich in den Stammesriten unterweisen zu lassen, war sie voller Angst, was sie dort erwarten würde. Als sie das Dorf verließ, hatte sie zu sich selbst gefunden. „Die Angst, die du gespürt hast, war das Tor, durch das du gehen musstest, um zu einem neuen Anfang zu finden. Denn so wie der Tod ein neuer Anfang ist, so hilft dir die Angst, dich selbst zu erkennen.“ In den Menschen und den Tieren. Ohne die Gemeinschaft mit anderen kein Bewusstsein des eigenen Ichs. Ilonas Krafttier wurde der Leopard, der ihr in der Dunkelheit aufgelauert hatte. Dessen Energie und dessen Schärfe des Blicks machte sie sich zu eigen.

Sie trug die Maske des Leoparden, sie tanzte die Tänze der Frauen, unbeholfenen, aber ohne Scheu. „Ich bewundere die Art, wie ihr lebt. Ich möchte es lernen. Darum bin ich hier.“ Die Priesterin dankte es ihr: „Ich kenne wenige Weiße, die zu uns kommen, um von uns zu lernen. Sie wollen immer, dass wir von ihnen lernen. Du kannst zuhören. Weiße reden sonst sehr viel. Das ist gut, dass du zuhören kannst.“

Ilona hörte zu, und sie sah genau hin. Sie sah Mädchen, die an der Beschneidung starben oder lebenslang Schmerzen leiden würden. Mädchen, die sich wehrten, die der Tradition entkommen wollten. Sie sah, dass auch unter den Frauen Eifersüchteleien und Missgunst herrschte. Dass die Herrschaft der Männer oft eine willkürliche und ungerechte war, und dennoch nicht in Frage gestellt wurde. Denn die Frauen schöpften immer wieder neu Kraft aus ihrer Gemeinschaft.

„Deine Beziehungen zu anderen Frauen sind deine Persönlichkeit“, erklärte die Älteste der Priesterinnen. „Nimm Abschied von deinem Egoismus, der nur sich selbst dient. Du musst Teil der Gemeinschaft werden. Eine reiche Frau ist eine Frau, die reich an Beziehungen ist. Doch die Beziehungen - das sind wir alle untereinander. Wir gemeinsam bilden eine Seele.“

„Tradition ist also wichtiger als Selbstbestimmung?“, fragte Ilona ihre beste Freundin Yemi, die beide Welten kannte. Ihre Antwort: „Ich habe in deinem Land gelernt, dass ihr nur den eigenen Weg für richtig haltet. Dinge, die man selbst nicht machen würde, dürfen andere Völker deshalb auch nicht tun.“ Was hätte Ilona ihr entgegnen sollen? Mit welchem moralischen Recht?

Ein zweites Ich, um in Afrika bleiben zu können

Ilona verlor ihr Kind, das Kind Victors, sie kehrte nach Deutschland zurück. Warum sie nicht verzweifelte an dieser Tragödie, die ihr widerfahren war? Weil das Leben nur Teil einer viel längeren Reise ist, wie sie im Dorf der Frauen gelernt hatte. Wir sind mehr als nur Opfer der Umstände.

Ilona traf in Deutschland keinen Prinzen, sondern Peter, den Mann, mit dem sie zwei Kinder bekam und ihren Lebenstraum teilte: Menschen von anderen Menschen zu erzählen. Aber zuvor machte sie die Karriere, die sich ihre Eltern immer von ihr erhofft hatten. Bis sie des Alltags müde wurde. In den frühen Neunzigern zog sie sich mit Peter zurück aufs Land und schrieb ihre Geschichte auf, die anfangs kein Verlag haben wollte. „Die weiße Hexe“, erschien erst im Frühjahr 2000, wurde ein Bestseller, dem viele weitere folgten.

Die beiden zogen um nach Berlin. Ilona schuf sich ein zweites, literarisches Ich, um in Afrika bleiben zu können, eine junge Ärztin, Amelie von Freyer, mit der sie in ihrer Fantasie kreuz und quer durch den Kontinent zog. Die Leser folgten ihr; es war ein wenig wie im Dorf der Frauen, eine Gemeinschaft, die gemeinsam litt und gemeinsam lachte.

Für die Presse schien Ilona auf den ersten Blick die Frau von nebenan, so wenig Aufhebens machte sie um sich, aber wer genauer hinsah, ahnte, dass da noch immer eine unerschöpfliche Neugier lauerte und eine Kraft - die vom Schicksal erneut herausgefordert wurde.

Ende der 90er Jahre ein unheilvoller Treppensturz. Die Schmerzspritze löste eine allergische Reaktion aus, so ihr Empfinden. Fortan begann der Körper Krieg gegen sich selbst zu führen. Der Name dieser damals noch weitgehend unerforschten Autoimmunkrankheit: Lupus Erythematodes. Lupus, der Wolf. „Ich lebe mit diesem Wolf seit vielen Jahren. So, wie geschätzte 40.000 andere Menschen in Deutschland.“ Ilona wollte sie mit in ihren „Kreis der Stärke“ ziehen. Sie gründete eine Selbsthilfevereinigung und schrieb ein Buch, in dem sie ihren Leidensweg für das Wohl der anderen Betroffenen öffentlich machte. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie jemanden haben, der Sie heute noch in den Arm nimmt.“ Inzwischen ist die Krankheit viel besser erforscht und die Lebenserwartung kaum noch geringer als die von gesunden Menschen.

Ilona Hilliges aber litt, und sie starb daran. Die starken Medikamente führten zu einer Diabetes und schließlich zur Erblindung. Die Welt verschwand im Nebel, aber sie rief die Menschen zu sich mittels ihres Handys, das war ihre Trommel, mit der sie alle guten Geister um sich versammelte. Bis ihr das Atmen immer schwerer fiel und sie entkräftet aufgab. „Ein Blatt trudelte vom Baum in meinen Schoß. Der Mensch ist wie ein Blatt, mit dem der Wind spielt. Es fällt vom Baum und landet an dessen Wurzeln, wo es im Leib von Mutter Erde vergeht und so dem Baum neue Kraft gibt.“

Ein Kreis vertrauter Frauen scharte sich um sie, als sie an Peters Seite starb. All die Energie, die je um sie und in ihr gewesen war, entlud sich in dieser Stunde in einem mächtigen Gewitter, mit Blitz und Donner nahm sie Abschied. Ihre letzte Ruhestätte fand sie unter einem Gingkobaum.

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