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Manfred Nehls

© privat

Nachruf auf Manfred Nehls: Führt euch doch selber an!

Was andere Schicksal nennen, hatte nie einen Bogen um ihn gemacht. Dafür gewährte es ihm immer wieder Sonderbedingungen.

Stand:

„Könnte ich vielleicht einen Sekt und ein Bier bekommen? Ich muss mich aufs Sterben vorbereiten!“, sprach er zuletzt im Hospiz mit seiner sanften, warmen, nun etwas müden Stimme. Seine Zugewandtheit, die so viele umfasst hatte, war noch immer da.

Er hatte schon lange wenig anderes zu sich genommen als Sekt und Bier. Seit 35 Jahren spürte Manfred Nehls keinen Hunger mehr. Damals hatten ihm die Ärzte noch ein paar Monate gegeben, höchstens, den Magenkrebs hatten sie durch Zufall entdeckt. Es sei denn, er entschließe sich zu einer vollkommen unerprobten, riskanten Behandlung und lerne, fast ohne Magen zu leben. Das Wunder geschah. Manfred Nehls hat den Hunger nie vermisst, nur die allzu Irdischen müssen ständig essen.

Er zählte nie ganz zu ihnen. Er nahm die Welt, wie sie ist, durchaus hin, er hat ihr nie den Krieg erklärt, er hätte gern mit ihr ein Abkommen über die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten geschlossen, aber sie hat sich nie darauf eingelassen. Schon dass sie den Tod akzeptierte, dieses allergrößte Skandalon, sprach gegen sie: Wie kann das sein, / nicht mehr zu sein für immer, / und trotzdem fehlt niemand.

Wer Gedichte schreibt, dem ist nur eine Welt nicht genug. Den Mauerfall 1989 erlebte Manfred Nehls in einer West-Berliner Reha. Schade, er wäre gern dabei gewesen, im Herbst 1989, der Junge aus Groß Glienicke, aufgewachsen in der Freiheitsstraße. Vielleicht musste das Kind aus der Freiheitsstraße in jenem kalten 50er-Jahre-Winter einfach über den zugefrorenen Groß Glienicker See laufen. Er wollte gar nicht in den Westen, er wollte etwas viel Wichtigeres: schauen, wie weit das Eis trägt.

Bis in die falsche Welthälfte

Vielleicht war ihm damals schon klar, dass er immer etwas weiter laufen würde. Doch jetzt trug es, bis in die falsche Welthälfte. Der Ärger war groß, doch sein Vater teilte die Empörung der Schule kaum.

Manfred war der Erste in der Familie, der Bücher las. Wer liest, arbeitet nicht, glaubte der Vater. Das Haus, in dem sie wohnten, hatte er mit nichts als seiner Hände Arbeit gebaut. Die weite Glastür führte auf die große Terrasse, und davor lag der Garten. Es hätte eine vollkommene kleine Kindheitswelt sein können, aber abends ging Vater Alfons trinken. So machen richtige Männer das, und alle fürchteten seine Rückkehr.

Manfreds Mutter, am Ende des Krieges aus Danzig geflohen, litt stumm unter ihrem Mann und der Schwiegermutter, die mit ihnen lebte und sie nie akzeptierte als zweite Frau im Haus. Aber ihren Enkel liebte sie. Manfred war also privilegiert, und doch: War menschliche Nähe nicht ein anderes Wort für Unglück, für freiwillig-unfreiwillige Gefangenschaft? Er würde sie einmal anders leben. Vielleicht lag der Fehler schon im Singular. Vielleicht sollte es viele Nähen geben statt nur einer. Ein richtiger Mann wollte Manfred Nehls ohnehin nie werden, nicht so einer wie sein Vater. Auch darum würde er später seinen Namen ändern, es war eine Unabhängigkeitserklärung. Ursprünglich hieß er Krzyszek.

Mag sein, die anderen Jungen spürten etwas Abweichendes in Manfreds Natur, oder sie sahen in dem schmalen, nicht sehr großen Mitschüler einfach nur das willkommene Opfer – und schlugen zu, bedenklich oft. So geht das nicht!, sprach Vater Alfons, ein richtiger Mann hat keine Angst, der wehrt sich, und er überreichte seinem einzigen Sohn ein Paar Boxhandschuhe.

Es kommt darauf an, die eigene Angst zu besiegen, lernte Manfred, weshalb er sich später bei der Armee zu den Fallschirmspringern meldete. Er hatte große Angst vorm Fallschirmspringen. Und überlebte einen Absprung aus 800 Metern Höhe, bei dem der Schirm sich nicht richtig öffnete. Noch später würde er im Indischen Ozean nach Haien tauchen, Haie waren noch bedenklicher als unzuverlässige Fallschirme und halbwüchsige Schläger.

Als Junge aber kultivierte er die Form des Präventivschlags, seine Faust kam blitzschnell im unerwarteten Moment. Fortan ging er weitgehend unverprügelt durch seine Jugend, und seine Mitschüler sahen in ihm bald den Typus Anführer. Aber Manfred lehnte ab und würde es immer wieder tun: Führt euch doch selber an! Er würde es in dieser Disziplin, dem Selbstanführen, weit bringen, doch vorerst wollte er Profifußballer werden. Aber die Sportschule nahm keinen, der über den Glienicker See läuft und dessen Mutter bis zum Mauerbau in West-Berlin gearbeitet hatte. Vielleicht wusste die Sportschule sogar, wie seine ostpreußische Verwandtschaft über die DDR dachte.

So einer durfte auch kein Abitur machen, dabei wusste Manfred Nehls damals schon, dass er schreiben wollte, und wer schreibt, muss auch etwas wissen. Mag sein, seine Lehrer erkannten das Irrlicht in ihm. Der Vater erkannte gar nichts und erklärte: Abitur ist Humbug, du wirst Elektriker!

Das Universum von Gleichstrom und Wechselstrom ließ ihn vollkommen gleichgültig, manchmal suchte er unangemessen lange in fremden Wohnungen nach der Ursache eines einfachen Kurzschlusses und verursachte bedenklich viele Kollateralschäden. Vielleicht, überlegte er, sollte ich die Welt der Elektrizität durch die der Seefahrt ergänzen? Abenteuerlich wäre das schon. Aber wenn die Besatzung der Fischtrawler etwas nicht tolerierte, erfuhr der Mitarbeiter des VEB Fischkombinat Sassnitz bald, waren das ausgefallene Kühlaggregate. Ein Seefahrtsbuch bekam er nie.

Zu den großen Nachteilen des Aufenthalts auf dem Meer gehört ohnehin der Frauenmangel. Gäbe es keine Frauen auf der Welt, er hätte sie wohl sofort wieder verlassen. Sie spürten wohl, dass es nicht bloß sexuelle Bedürftigkeit war, die ihnen in diesem Mann entgegenkam, sondern Verehrung, Bewunderung gar. Sie galt in der Einzelnen dem ganzen Geschlecht, dem ganzen Geschlecht in der Einzelnen.

Sein größter Dämon

Er stellte den Frauen nicht nach, eher kamen sie zu ihm. War es seine Mischung aus Hilfsbedürftigkeit, Melancholie und sensibler Männlichkeit, die sie anzog?

Manfred Nehls hatte noch während seiner Lehre auf der Abendschule das Abitur nachgeholt und hätte es glatt noch ein zweites Mal gemacht, so viel Weiblichkeit gab es da. Vielleicht wusste er selbst nicht, dass er als Mann zum Heiraten ein Irrtum war. Und als Vater auch, wenn es stimmt, dass Kinder Verlässlichkeit und feste Bezüge brauchen. Nicht nur, dass Manfred Nehls den Plural Frau über seinen beiden Ehefrauen nie vergaß. Wahrscheinlich hatten sie auch gehofft, sie könnten ihn von seinem größten Dämon befreien, dem Alkohol.

Nein, er hatte nie wie sein Vater werden wollen, und doch entkam er nicht ganz: Als wär’ Herkunft ein auf die Stirn gebranntes Muttermal aus Schmach und rätselhafter Schuld. Erbsünde. Genenfluch. Narbenmuster auf einer Oberfläche, die die Form der Seele hat. Er verfiel dem Alkohol wie sein Vater. Der Durst, der aus mir trinkt, hatte er in einem Gedicht für seinen Malerfreund Max Stock geschrieben, neben dem er jetzt auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof liegt. Das Trinken ist eine durchaus metaphysische Erfahrung. Eine Weltenthobenheit genau wie die sexuelle.

Später in Berlin West beschrieb er für einen Literaturwettbewerb den weiblichen Orgasmus, natürlich von innen und von der Frau her. Er wählte, nicht zum ersten Mal, ein weibliches Pseudonym. Sein Beitrag wurde ausgewählt, nun sollte die Autorin auch lesen. Ein Murren ging durch den Raum, als der Autor die Bühne betrat. Manfred Nehls las gut, trotzdem steigerte sich das Murren zur offenen Feindseligkeit: Jetzt schreiben die Männer schon über unsere Orgasmen! Immerhin forderte der Piper Verlag den begabten Autor nachher auf, mehr zu schicken. Er hat es nicht getan.

Schon in der DDR hatte er an Wettbewerben schreibender Arbeiter teilgenommen, und weil er so viel zu versenden hatte, verteilte er seine Gedichte auf sich und seine zweite Frau. Worauf die Ermahnung zurückkam, der Autor möge sich ein Beispiel am poetischen Niveau der Gattin nehmen.

In der DDR hat der Mann mit dem Abendschul-Abitur dann noch Geschichte studiert und Germanistik. Er wurde Deutschlehrer an der 31. Polytechnischen Oberschule Prenzlauer Berg. Gewiss hat er den Schülern von seinen Lieblingsdichtern Heine, Majakowski und Bobrowski erzählt. Aber seine Definition von Lyrik, sie sei der meist vergebliche Versuch „der Harmonisierung von Libido und Legasthenie“, enthielt er ihnen wohl vor. Als die DDR 1976 Wolf Biermann ausbürgerte, wollte die 31. POS in einer einmütigen Resolution des Lehrkörpers alle Maßnahmen der Partei- und Staatsführung unterstützen. Ohne mich!, sprach der Deutschlehrer Nehls. Und dass er seinen Schülern nie etwas sagen werde, woran er nicht glaube. Etwa, dass Wolf Biermann ein Verräter sei. Mithin entsprach er „nicht den Anforderungen an eine sozialistische Lehrerpersönlichkeit“.

Arbeitslos, von einem Tag auf den anderen. Diese Existenzform sah die DDR nicht vor; wer nicht arbeitete, galt als asozial. Eine besonders hohe Konzentration von Menschen mit eigenen Maßstäben versammelte sich in der späten DDR auf den Friedhöfen. Viele wurden Gärtner, er wurde Grufter und Leichenträger auf dem evangelischen Friedhof Berlin-Nordend. Die Toten schienen ihn zu mögen. Nicht nur einmal hob er in ihren Gruben Goldzähne auf.

Der Sargträger hörte Trauerreden mit und hätte mitunter rufen wollen: Aber so geht das doch nicht! Wie kann man Menschen mit solchen Allgemeinplätzen verabschieden für immer? Seid ihr denn als Allgemeinplatz zur Welt gekommen? Und Manfred Nehls wurde Trauerredner für weltliche Abschiede, er würde es immer bleiben. Nur für den Zirkus „Aeros“ verließ er noch einmal den Friedhof und wurde dessen „Künstlerischer Leiter“. Als der Zirkus auf Tournee in die Sowjetunion ging, musste er zu Hause bleiben. Nicht mal in die Sowjetunion durfte er? Jetzt reicht es!, beschloss der Läufer über den Glienicker See.

Er hielt es für eine gute Idee, im Arbeitsanzug der Gleisarbeiter unter einem Zug zu verschwinden und sich von unten festzuhalten. Eine Übungsfahrt überlebte er nur mit Glück. Aber seinem Ausreiseantrag wurde schließlich stattgegeben, von einem Tag auf den anderen hatte er 1984 mit seiner Familie die DDR zu verlassen, binnen 24 Stunden. Kaum im Westen angekommen, teilte seine Frau ihm mit, dass sie sich nun scheiden lassen wolle. Das war selbst für ihn etwas zu viel Abschied. Und doch, die besten Jahre lagen vor ihm.

Was andere Schicksal nennen

Sollte er es noch einmal als Geschichtslehrer versuchen? Manfred Nehls betrat die Schule, die ihn nehmen wollte, schaute ins Lehrerzimmer, in die Klassenzimmer und spürte eine plötzliche Enge. War er in den Westen gegangen um einer neuen Enge willen? In Gesellschaft der Toten und ihrer gelebten Leben war er freier. Und die waren es nicht allein.

Er drehte Dokumentarfilme, schrieb Features für den Rundfunk und Beiträge für Magazine, etwa für „L’image“. Auf seinen Briefbögen stand jetzt „Autor, Regisseur, Journalist“. So hätte das immer weitergehen können.

Großzügig wie seine Wohnung in der Kantstraße, die er in einen Zustand der Bewohnbarkeit zurückversetzte, waren auch seine Feiern. Das Leben, das er führte, passte nicht zu einem Abstinenzler. Wahrscheinlich glaubte Manfred Nehls auch nicht, dass Abstinenzler Gedichte schreiben können. 2003 erschien ein schönes Buch mit seinen Gedichten und wunderbaren Illustrationen, die diesen Gedichten zu antworten schienen. Er nannte sich Chetan Akhil.

Die Bilder waren von seiner neuen Untermieterin, der Kunststudentin Julia Antonia. Obwohl beide sich anfangs gegenseitig erotische Unbedenklichkeit attestierten, mussten sie ihr Urteil bald korrigieren. Vielleicht war Julia Antonia die einzige Frau, die mit ihm leben konnte, ohne ihn ändern zu wollen. Und sie war die Einzige, die bis zum Schluss immer für ihn da war.

Eine plötzliche Querschnittslähmung stellte 2001 sein Leben still, doch er wollte noch einmal nach Zypern. Querschnittslähmung? In der ersten Woche lief er schon an Krücken, in der zweiten war es nur noch eine, in der dritten spielte er Tennis und gewann gegen seine Begleiterin. Was andere Schicksal nennen, hatte nie einen Bogen um ihn gemacht – Blitze mochten es, in seiner unmittelbaren Nähe einzuschlagen –, aber dafür gewährte es ihm auch immer wieder Sonderbedingungen. Als sich sein Sohn Philipp mit fast 40 Jahren das Leben nahm, war das anders. Dieser Schmerz war nicht heilbar. Er hatte sein Kind immer unterstützt, auf seine Weise. Aber Verlässlichkeit und Vertrauen hat Philipp bei ihm wohl nicht lernen können.

Zuletzt ist Manfred Nehls zurückgegangen in sein Elternhaus in der Groß Glienicker Freiheitsstraße, da war der Krebs schon überall. Jeden Morgen ging er barfuß in den Garten, im Sommer und im Winter. Der Garten übernahm die Gartengestaltung selbst, sogar die Fenster wuchsen zu. Und im Innern zwang bald niemand mehr die heruntergefallenen Bücher, wieder in Reih und Glied zu stehen.

An dem großen surrealen Metallgesicht an der Straßenseite – es war das Werk von Julia Antonia – erkannte jeder, dass hier einer wohnte, der schon immer aus jedem Rahmen fiel.
Spiel mit mir die Welt geht unter
Mach mir den Abschied nicht so schwer
Ich wein ja nicht, ich heul ja bloß
Bis die Delphine wieder springen
Und ich in einem andern Schoß
Das alte Lied werd singen.

Vielleicht sollte es viele Nähen geben statt nur einer

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