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Nachruf auf Marianne Hochmuth: War es Pech? War es Glück?
Sie ruinierte ihre Stimme in der Schule – und stellte sie an der Universität wieder her
Stand:
Mariannes Eltern hatten sich 1929 im Kino kennen gelernt. Sie war Putzmacherin, er arbeitete im Papierwarengeschäft. Marianne kam als drittes Kind auf die Welt. Ihr Vater war Asthmatiker, an die Front musste er nicht, wurde aber ins Reichsluftfahrtministerium eingezogen, dann nach Breslau beordert. Die Mutter ging mit den drei Kindern nach Ostpreußen, Kinderlandverschickung, wo sie das vierte Kind gebar, ein Schwesterchen. 1944 Flucht nach Thüringen, 1945 zurück nach Berlin, wo sie das Kriegsende im Luftschutzkeller in Prenzlauer Berg erlebten. Das Schwesterchen bekam eine Lungenentzündung und starb. Die große Traurigkeit war eine von Mariannes ersten Erinnerungen.
Der Vater handelte auf dem Schwarzmarkt, hungern mussten sie trotzdem. Sie hatten aber immer noch ihre 3-Zimmer-Wohnung im Eckhaus an der Pasteurstraße, die sie sich mit Tante Käthe teilten, einer ausgebombten Nachbarin. Im September 1945 ging die Schule los, Marianne war noch nicht sechs, wollte aber unbedingt lernen. Überhaupt nicht einverstanden war sie, dass sie die Schule mit 13 wieder verlassen und eine Lehre machen sollte, so wie ihre große Schwester.
Die DDR brauchte Lehrerinnen, weshalb es Marianne gelang, sich in einer Art Crashkurs zur Unterstufenlehrerin ausbilden zu lassen. Einer ihrer Lehrer war ein gewisser Arno Hochmuth, 25, etwas dick vielleicht. „Der macht einen schauen Unterricht“, berichtete sie zuhause.
Zwangspause
Den Vater verehrte sie, die Mutter liebte sie, einen Grund auszuziehen, gab es nicht. Der erste Job in Frankfurt/Oder, natürlich fuhr sie am Wochenende nach Hause. Die zweite Anstellung dann in einer Schule in Prenzlauer Berg, wo sie Sport unterrichtete. War es Pech? Erst riss ein Meniskus – Zwangspause. Dann musste sie beim Sportunterricht mit 100 Kindern so sehr schreien, dass sie Knötchen an den Stimmbändern bekam – strikte Stimmruhe. Schließlich bekam sie noch Gelbsucht und fiel komplett aus.
War es Glück? An der Humboldt-Universität, Fachbereich Sprach- und Stimmheilpädagogik sollte Marianne ihre Stimme für die Schule wieder einsatzfähig machen. Das tat sie, spannender aber fand sie, was die Fachleute hier taten: Kindern und Erwachsenen beizubringen, ihre Stimme richtig zu benutzen. Vor allem interessierte sie die Behandlung von Kindern mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. Marianne war so Feuer und Flamme, dass ihr schließlich eine Stelle angeboten wurde.
Kinder wurden damals oft zu spät behandelt, lernten kaum zu sprechen. Marianne drängte darauf, die Kinder früher zu operieren, damit sie früher mit den Übungen beginnen konnten. Es war schwer, die 29-Jährige wurde von den Ärzten kaum ernstgenommen. Dann schreibe ich eben eine Doktorarbeit, beschloss sie, 1976 verteidigte sie die Promotion, war nun Frau Doktor, hielt Vorlesungen und wurde von den Herren in den weißen Kitteln um Rat gefragt. Wenn jemand ihren Titel vergaß, konnte sie äußerst spitz werden. Für Kongresse flog sie um die Welt, bis nach Kanada.
120 Neuaufnahmen hatte sie im Jahr, von 1968 bis 2005 war sie im Dienst, das machte über 4000 Kinder, denen sie half. Ein Dienst, der ihr lebenslangen Dank einbrachte.
1972, Januar, die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration, eine Pflichtveranstaltung, es war bitterkalt, als Marianne ihn wieder sah, Arno Hochmuth, den etwas dicken, aber schauen Lehrer. Sie redeten und redeten, Professor war er inzwischen geworden, nachdem er fürs ZK der SED tätig gewesen war, der unpolitischen Marianne war das egal. Sie trafen sich wieder und verliebten sich. Seine Ehe war zerbrochen, Ende Januar 1974 ließ er sich scheiden, Anfang Februar heirateten sie, und er zog zu ihr, in die elterliche Wohnung. Ihr Vater war inzwischen tot.
Arno war witzig, wusste unheimlich viel und beriet sie in wichtigen Karrierefragen. Gleichzeitig gab es ein klares Machtgefälle: Er war der Professor, der ihr seine Aufsätze in die Schreibmaschine diktierte. Sie chauffierte ihn, und natürlich schmiss sie auch den Haushalt.
Nach dem Mauerfall ging es einfach weiter
1977 kam Hanno auf die Welt, Mariannes erstes, Arnos fünftes Kind – ein Geschenk für sie, die mit 37 in der DDR als fast schon hoffnungslos spätgebärend galt. „Sie war eine liebevolle, zärtliche Mutter mit Küsschen und Streicheln. Ich hatte immer das Gefühl, geliebt zu werden“, erinnert sich ihr Sohn. Dass sie vier Wochen nach der Geburt wieder arbeiten ging, verstand sich dennoch von selbst, das ging gar nicht anders. Schließlich gab es ja auch noch die Oma in der Wohnung.
Nach dem Mauerfall ging es für Marianne einfach weiter. Gaumenspalten und Sprachstörungen gibt es im Kapitalismus wie im Sozialismus. Für ihren Mann brach ein Lebenstraum zusammen, er rettete sich in den Vorruhestand. Gleichzeitig öffnete sich die Welt; die Hochmuths reisten wie verrückt.
1998 nahmen sie all ihr Erspartes und noch einen Kredit und kauften eine Wohnung mit Garten in Stralau, direkt am Wasser mit einer Kastanie vor dem Fenster. Mit 59 verließ Marianne die Wohnung, in der sie aufgewachsen war.
Arno wurde cholerisch, chronisch krank und litt dann auch noch unter einer Demenz. Sie wiederum lernte 2002 einen Mann kennen, verliebte sich neu und genoss ihr spätes Lebens- und Liebesglück. Doch es blieb eine Affäre; das war ihr Kompromiss. Ihren Mann ließ sie nicht allein, sie pflegte ihn aufopferungsvoll. Und er musste damit klarkommen, dass sie einen anderen liebte.
2012 starb Arno, kurz nachdem ihre Affäre zu Ende gegangen war. Sie musste und konnte nun noch einmal neu anfangen.
Sie fuhr gern Auto, insgesamt 15 Wagen hatte sie in ihrem Leben. Sie schrieb Gedichte, hunderte. Sie kümmerte sich um die Enkel. Alleine bleiben konnte sie nicht, also besuchte sie ihre ältere Schwester, die im Berliner Norden am Stadtrand lebt, immer öfter und länger. Irgendwann verbrachten die beiden fast ihre gesamte Zeit miteinander. Viel reden mussten sie gar nicht.
Drei Nächte wachte Hanno an ihrem Bett, bis sie aus ihrem letzten Schlaf nicht mehr aufwachte. Es war der 23. November, das gleiche Datum, an dem auch ihre Mutter gestorben war. Mit einem Kuss auf die noch warme Stirn verabschiedete sich ihr Sohn von ihr.
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