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Marianne Pucks

© privat

Nachruf auf Marianne Pucks: Auf dem Weg der Blumen

Sie erhielt den „Kaiserlichen Orden der Aufgehenden Sonne, Goldene und Silberne Strahlen“

Stand:

Marianne muss um die 88 Jahre alt gewesen sein, als sie sich einen ihrer eleganten Röcke anzog, eine Kette umhängte, Ohrringe anlegte, etwas Make-Up auftrug und erhobenen Hauptes in einen Skat-Klub ging. Ob es hier nicht noch einen Platz für eine alte Dame gäbe, fragte sie.

Marianne vermisste das Kartenspielen so sehr. Schon als junge Frau hatte sie Leute im Zug gefragt, ob sie nicht Skat oder Doppelkopf mit ihr spielen wollten. Sie spielte offensiv, riskierte die Niederlage, manchmal schummelte sie und stieß den Mitspieler mit dem Fuß an. Nach jeder Runde wurde das Spiel analysiert, wer hat welchen Zug gemacht, warum ging etwas schief. Sie führte sogar Buch, über Jahrzehnte hielt sie die Spielergebnisse und die Teilnehmer jeder Spielrunde fest.

Im Skat-Club mit Ende 80 musste sie hinnehmen, dass sie nicht mehr ganz so schnell im Mitzählen war wie früher. Freundlich aber bestimmt, wurde ihr mitgeteilt, dass es nicht passen würde. Das saß. Bislang hatte Marianne üblicherweise bekommen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte.

Sie stammte aus einem kleinen Dorf zwischen Bremerhaven und Cuxhaven. Ihr Vater, im Ersten Weltkrieg schwer verletzt, lernte in der Dorfmetzgerei, arbeite in Norwegen, dann in den USA, kehrte zu seiner Frau zurück und kaufte einen kleinen Hof mit Wiesen und Kühen. Hier kamen zwei Brüder auf die Welt, dann Marianne, dann starb der Vater. Sicher hatte die Mutter sie alle geliebt, doch das Leben war hart und mühsam.

Zur zweiten Melkrunde war sie wieder zuhause

Marianne war für zehn Kühe zuständig, auf gar keinen Fall könne sie für die Lehre an der Hauswirtschaftsschule jeden Tag nach Bremerhaven fahren. Marianne setzte sich durch, stand halb fünf auf, molk die Kühe, fuhr in die Stadt, lernte und war zur zweiten Melkrunde wieder zuhause. Als Marianne ihren Führerschein machte, war das ein Skandal im Dorf. Als sie mit ihrem ersten Freund Schluss machte, waren ihre Brüder sauer. Schließlich war das der Sohn des Düngemittelherstellers, da hätte es doch sicher Rabatte gegeben. Marianne wollte sich nicht eingrenzen lassen, Marianne wollte raus.

Vom Kuhdorf nach München, vom Stall in das Boschgeschäft, wo sie Einbauküchen verkaufte.

Dieser Jurastudent hatte es ihr angetan. Was der alles über Politik, Kunst und klassische Musik wusste! Sie gingen in Konzert, trafen Freunde, reisten, es passte, sie zogen nach Berlin. Nachdem er sein Jurastudium abgebrochen hatte, drängte sie ihn, beruflich Boden unter die Füße zu bekommen. Also wurde er Steuerfachmann und machte seine eigene Kanzlei auf. Mit ihrem Bausparvertrag bauten sie das alte, ausgebombte Heim seiner Familie wieder auf, zogen ein und bekamen zwei Söhne.

Zuhause vibrierte das Leben, erinnert sich der Ältere. Ständig war da Besuch, und jedes Mal kochte Marianne das perfekte Essen, arrangierte es auf blitzenden Tellern, fast wie im Edelrestaurant. „Alle wollten von ihr eingeladen werden, und niemand traute sich, Marianne einzuladen“, sagt eine Cousine. Der jüngere Sohn erzählt von einer Mutter, die großen Wert auf schulische Leistung legte, auf Disziplin. Irgendwann habe er da nicht mehr mitgemacht, was natürlich Ärger nach sich zog. Ärger gab es auch hin und wieder zwischen den Eltern. Wenn er unbeherrscht wurde, blieb sie die Ruhigere.

Die Jungs wurde älter und selbstständiger. Küchen hatte sie lange genug verkauft. Sollte sie es wagen und ein Restaurant aufmachen? Oder sollte sie sich voll und ganz dieser merkwürdigen Blumen-Steck-Kunst aus Japan widmen, die langsam nach Deutschland kam?

Marianne war an einem Blumengeschäft vorbeigelaufen, in dessen Schaufenster sie statt dicker Sträuße merkwürdig reduzierte Arrangements einzelner Blumen und Ästen sah. Sie ging hinein und erfuhr vom „Ikebana“, dem Weg der Blumen, von der Ästhetik der Asymmetrie, von den drei Linien auf der einen Seite und der Leere, die aber keine ist, auf der anderen. Die Linien stehen für den Himmel, die Menschen und die Erde.

Nicht jeder kam mit ihrer Strenge zurecht

Marianne war fasziniert. Sie fand eine Ikebana-Lehrerin, absolvierte alle Ausbildungsstufen, flog für Kurse nach Japan, erlangte den höchsten Lehrergrad, gründete eine eigene Berliner Ikebana-Abteilung und erhielt in der Japanischen Botschaft den „Kaiserlichen Orden der Aufgehenden Sonne, Goldene und Silberne Strahlen“ verliehen – als eine von damals 52 AusländerInnen.

Zum Ikebana gehört ja nicht nur das Arrangieren. Durch die Natur gehen, aufmerksam, konzentriert, ganz im Moment. Hier einen Zweig abschneiden, da ein Kraut mitnehmen, dort eine Blüte pflücken. Zum Glück hatten sie einen großen Garten, in dem Marianne nichts mehr dem Zufall überließ.

Sie gab Kurse an der Volkshochschule, dann unterrichtete sie bei sich zuhause. Marianne erklärte, dann sammelten die Schüler Material, ordneten es an. Marianne ging herum, besprach und korrigierte. Wo störte ein Zweig die Linie? Wo war das Material zu wuchtig? Wurden die Regeln beachtet? Nicht jeder kam mit ihrer Strenge zurecht. Zum Abschluss servierte Marianne Tee aus anmutigen Tassen und selbstgebackenen Mandelkuchen auf ausgesuchtem Service.

Nach und nach wurden ihre Schüler selbst Lehrer, eröffneten Blumenläden, schrieben Bücher. Einer, der schon als Jugendlicher fast jeden Tag in ihren Garten kam, wurde gerade Floristen-Weltmeister.

Marianne reiste durch die Welt, spielte Karten, verpasste kein Hertha-Spiel, las Zeitung, hatte zu jedem Thema eine Meinung, schlurfte in Pantoffeln und Nachthemd ins Kino Capitol, vergrub für die Enkel einen Schatz am Strand. Stillstand gab es nicht.

Bis ihr Mann starb, bis sich immer öfter diese Traurigkeit einstellte, bis nach und nach alles schwieriger wurde. Bis zu diesem wunderschönen Apriltag, als sie sich auf ihre Liege im Garten legte, die Sonne im Gesicht, ihre Pflanzen um sie herum, bis sie einschlief.

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