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Martin Marquard

© privat

Nachruf auf Martin Marquard: „Wir blockieren zurück!“

Das Schicksal ist nichts, in das man sich ergibt, das Schicksal ist eine Anfrage an den eigenen Mut

Stand:

„Der Brief, in dem meine Mutter meinem Vater, der als Soldat in Belgrad war, mitteilte, dass ich am 9. 10. 1944 geboren war, war der Erste, der zurückkam mit dem Aufdruck „Vermisst“. In den nächsten Tagen kamen noch mehr Briefe mit diesem Aufdruck zurück, was darauf schließen ließ, dass mein Vater etwa zu der Zeit, als ich das Licht der Welt erblickte, diese Welt verließ.“

Was Martin Marquard in seinen Skizzen zur eigenen Biografie so lakonisch notiert, hätte anderen zur lebenslangen Last werden können. Aber so dachte er nicht. Das Schicksal ist nichts, in das man sich ergibt, das Schicksal ist eine Anfrage an den eigenen Mut.

Der Vater war in der Wehrmachts-Schreibstube beschäftigt gewesen, in der Familie hatte es seit der Reformation immer nur Pfarrer, keine Soldaten gegeben. Das machte das Leben auf der Flucht vor der heranrückenden russischen Armee ein wenig einfacher. Die Mutter und die drei Kinder fanden ebenso wie die Großmutter und die Tanten immer in irgendeinem Pfarrhaus Unterkunft. Es war beengt, aber nie einsam. Die Armut kam nur zu Bewusstsein, wenn man hungerte. Zehn Jahre haben sie so in Senftenberg gelebt, viele Kinder, ein großer Garten, der Kirchplatz, das Pfarrhaus, eine Welt für sich. Das sah auch die ostdeutsche Staatsführung – und ließ es nicht gelten. Kirchenmitglieder wurden drangsaliert, Pfarrer politisch unter Druck gesetzt.

Rebellion in der Politik, Harmonie daheim

Martin hätte kein Abitur machen dürfen, auch seine Geschwister wurden gemaßregelt. Also flohen sie im Sommer 1960 nach West-Berlin und von dort nach Gelsenkirchen, wo Schalke 04 zwei Jahre zuvor Deutscher Fußballmeister geworden war. Eine Welt für sich, das Ruhrgebiet. Auch eine Welt des Zusammenhalts.

Martin wollte Theologie studieren, was nicht einfach war, denn sein Glaube war nicht unerschütterlich und das Geld stets knapp. Er wechselte zur Politologie und Publizistik, und schließlich zur Germanistik wie seine Freundin Karin. Die beiden hatten sich Knall auf Fall verliebt, zogen zusammen und gaben einander nie wieder auf. Trotz der wilden Zeiten. Aber sie waren sich einig: Rebellion in der Politik, Harmonie daheim.

Martin galt aufgrund seines politischen Aktivismus als potenzieller Verfassungsfeind. Er wurde nicht zum Lehramt zugelassen, machte den Taxischein, arbeitete im Antennengeschäft des Bruders. Bis die Proteste gegen den Radikalenerlass zumindest in seinem Fall Erfolg hatten: Er wurde in den Schuldienst übernommen.

Die Kinder kamen zur Welt, ein Haus wurde gekauft, das Glück war da und schien schon wieder flüchtig. Die Diagnose: Polyarthritis, eine aggressive Form von Rheuma. Spätestens in 15 Jahren drohte der Rollstuhl. Martin wollte nicht in den Rollstuhl. Er glaubte daran, dass die Medizin Fortschritte machen würde. Die Cortison-Behandlung schlug an und ließ ihn glauben, die Krankheit im Griff zu haben.

Von nun an war er Hausmann. Vater dreier Mädchen und eines Jungen, der im gleichen Jahr geboren wurde, als er den Schuldienst aufgab. Für die Kinder war es etwas ganz Besonderes, dass ihr Vater immer da war. Sie hatten Mitleid mit den anderen Kindern in der Schule, weil kein Papa so früh auf sie zu Hause wartete. Der Teddybären wieder heile machte, kaputte Uhren zum Ticken brachte und als Architekt von Puppenhäusern Großes leistete.

„Ich habe mir vorher etwas vorgemacht.“

Dem Rollstuhl entkam er nicht. Aber er entkam der Vorstellung, als Rollstuhlfahrer behindert zu sein. „Ich habe mir vorher etwas vorgemacht. Ich konnte noch mit Mühe laufen. Bei dieser Krankheit ist es so, dass, wenn man zehn Schritte läuft, der Schmerz nachlässt. Aber wenn ich mich hinsetzte, hatte ich gleich wieder Angst vor dem Aufstehen. Und so dachte ich die ganze Zeit nur noch an die Krankheit. Da haben mir behinderte Menschen besonders geholfen: Sie haben mir vor Augen geführt, wie dumm und bescheuert ich doch bin, krampfhaft laufen zu wollen. Und das stimmte: Der Rollstuhl war wie eine Befreiung. Da hat mein Leben wieder angefangen.“ Mit der Familie machte er alle Reisen, die sie mit dem Finger auf dem Globus geplant hatten. Und er wurde wieder politisch aktiv, zunächst in einer Selbsthilfegruppe für Rheumakranke, dann in der Behindertenarbeit.

Am 23. Januar 1987 blockierten Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen die Kreuzung am Adenauerplatz, wenige Tage später bei minus 15 Grad die Kreuzung am Kranzlereck. Ziel der spontanen Aktion: eine barrierefreie Stadt. „Wir werden blockiert – wir blockieren zurück!“ Die Forderungen: ausreichende Finanzierung der Fahrdienste für Behinderte, Aufzüge an den Bahnhöfen, rollstuhltaugliche Busse, behindertengerechte Toiletten. Das alles kostete den Senat Geld, musste folglich erkämpft werden. Aber es sickerte so langsam in viele politische Köpfe, dass Behinderte ein Recht auf Bewegungsfreiheit haben, allen Kostenvorbehalten zum Trotz.

Als die Mauer fiel, wurde die Bewegung stärker, denn im Osten war es Behinderten nicht besser ergangen. Martin wurde Chefredakteur der „Berliner Behindertenzeitung“ und im Jahr 2000 zum Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung berufen, er blieb zehn Jahre im Amt. Sein Ziel, in Interviews und Reden immer wieder formuliert: die barrierefreie Stadt. Das ist ihm nicht gelungen, aber er hat die Hoffnung geweckt, dass es irgendwann gelingen wird.

„Meine Behinderung ist kein Unglück, eher ein Schicksal, mit dem ich leben gelernt habe. Manchmal träume ich aber davon, zu laufen … Am nächsten Tag erinnere ich mich an meinen Traum und denke: Da bin ich tatsächlich gelaufen.“ Aber er kam auch so überall hin.

Martin liebte es, sich an der See mit dem Rollstuhl in den Wind zu stellen, ganz nah ans Wasser. Er wollte den Wind spüren, die Seeluft riechen, das Rauschen der Wellen hören. Gern auch ein Eis dazu, da dachte er wie seine vielen Enkelkinder. Die ganze Familie stand zusammen bis zum Schluss. Aber vor allem der Nähe zu seiner Frau wollte er sich sterbend noch einmal vergewissern. „Ist Karin da?“, waren Martins letzte Worte. Natürlich war sie da.

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