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Michael Freiberg

© privat

Nachruf auf Michael Freiberg: Ganz in Weiß

Als er sagte, dass er noch in der Bar bleiben wolle, wusste sie, dass ihre Zeit enden würde

Was macht ein 14-jähriger Junge, der den Volksschulabschluss in der Tasche hat? Michael wollte Schaufensterdekorateur bei Anny Friede werden, dem besten Bekleidungsfachgeschäft von Lübeck, sogar mit einer eigenen Perückenabteilung. Hier lernte er, wie man Puppen ausstaffiert, und wie man die Sehnsucht nach Sommer und Bikini mit Sandstrand, Riesenmuscheln und blauem Plastikmeer anfacht.

Genau gegenüber lag Karstadt, ebenfalls mit Schaufenstern, die allerdings von Evelyn dekoriert wurden. Da standen die beiden Jugendlichen in ihren Schaufenstern und lächelten einander zu. Michael wagte sich hinüber und sprach sie an. Eine Hals-Über-Kopf-Liebe war es für Evelyn nicht. Ruhig war Michael, aber immer hatte er Ideen, was sie machen sollten: ab in den Jazz-Club, tanzen auf dem „River Boat“, einem Musikschiff auf der Trave. Einmal führte Michael sie ins teuerste Restaurant. Die Kellner rümpften die Nase, ließen sie aber an einem kleinen Tisch Platz nehmen, versteckt unter einer Treppe. Ihr Geld reichte immerhin für eine Gerstensuppe.

Michael wohnte bei seiner Mutter in einem kleinen Reihenhaus. Dort hatte er zwei Zimmer. „So etwas Stylisches hatte ich noch nicht gesehen“, sagt Evelyn. Eins war komplett in Weiß gehalten, auf dem Bett lag ein Flokati, in der Ecke ein Sitzsack, auf dem weißen Plattenspieler lag eine weiße Platte. Es gab einen alten Eckschrank und eine weiße Papierlampe, die damals noch gar nicht modern war. Auf einem Regal standen zwei orangene Steinguttassen.

Die Mutter mochte Evelyn, war sie doch der Beweis, dass ihr Michael nicht schwul sein konnte. Das war ihre große Furcht. Wie Michael sich schon als Kind anzog, weißes offenes Hemd, in den Haaren eine Spange. Kokett präsentiert er sich auf den Kinderfotos.

Nicht dass er zu sehr rannte, sich zu sehr aufregte!

Mit zwei erkrankte Michael an einer Gehirnentzündung, kämpfte neun Monate im Krankenhaus um sein Leben. Dann entdeckten die Ärzte eine angeborene Herzkrankheit, die damals noch nicht operable war. Michael hätte sterben können, jederzeit. Deswegen sollte der große Bruder immer aufpassen, dass Michael nicht zu sehr rannte, sich nicht zu sehr aufregte und erst recht nicht auf den zugefrorenen Fluss ging. Der Vater starb, als Michael fünf war, ein Autounfall. Das hatte die Mutter verändert, hart gemacht. Trotzdem versuchte sie ihren Jungs alles zu bieten, fuhr mit ihnen nach Italien oder nach Sylt. Michael liebte sie, auch wenn es schwer mit ihr war. Als Michael und Evelyn einen Keramikkurs in der Volkshochschule besuchten, formte Michael eine Madonna und eine Vase für seine Mutter.

Evelyn wollte Keramik an der Hochschule der Künste in Berlin studieren. Michael wollte auch weg aus Lübeck. Erst dekorierte er bei Peek und Cloppenburg, dann bei Karstadt am Hermannplatz, fuhr am Wochenende Zeitungen aus, machte seinen Realschulabschluss nach und begann schließlich auch ein Kunsthandwerksstudium an der HdK. Der Freundeskreis wuchs, darunter waren auch schwule Freunde, die Evelyn und Michael mit in ihre Bars und Discos nahmen. Als Michael eines Abends sagte, dass er noch dableiben wolle, antwortete sie: „Aber wir sind doch immer zusammen nach Hause gegangen.“ Da wusste sie, dass ihre Zeit enden würde. Freunde blieben sie.

Winter 1979, draußen stob der Schnee, als es an Norberts Tür klingelte. Norbert war Lehramtsstudent, er besuchte ein Männerseminar, in dem auch Peter war. Neben Peter wiederum wohnte Michael. An diesem Abend also nahm Peter Michael mit zu Norbert. Norbert öffnete, sah Michael und war wie vom Blitz getroffen. Was für ein Mann, gut aussehend, groß gewachsen und diese Ausstrahlung! Norbert war so perplex, dass er die Tür spontan wieder zuwarf. „Was soll ich tun?“, fragte er seinen Mitbewohner panisch. „Vielleicht öffnest du einfach erst einmal wieder.“ Eine Woche später waren Norbert und Michael ein Paar. Als Norbert sein Studium vernachlässigte, sagte Michael zu ihm: „Jetzt reiß dich zusammen und werde mal fertig.“ Michael war ein Meister klarer Ansagen.

Kunsthandwerk war gefragt. Evelyn, Michael und eine weitere Künstlerin eröffneten eine Werkstatt mit Verkaufsraum und Galerie. Zweimal im Jahr fuhren sie auf die Messe, stellten dort ihre Stücke aus, nahmen Aufträge entgegen, die sie dann abarbeiteten. Michael liebte das Fragile. Stücke aus Biskuit-Porzellan, fein ausgerollt, die man sofort anfassen möchte, was allerdings gefährlich wäre. Oder Vasen, die so schräg standen, dass man glaubte, dass sie doch umfallen müssen. Anfang 1990 machte Michael das „Clay“ auf, sein eigenes Geschäft auf der Bundesallee, hinten die Werkstatt, vorn der Verkaufsraum mit weißen, freischwingenden Regalen, die von unten angeleuchtet waren. Norbert half im Laden, wann immer er konnte.

1994 hörte Michaels Herz auf zu schlagen. Er fiel bei der Silberhochzeit seines Bruders einfach um. Norbert presste immer wieder auf seinen Brustkorb, bis der Rettungswagen endlich da war. Michael überlebte, bekam einen Defibrillator eingesetzt. Schonen sollte er sich, doch vom Leben ließ er sich nicht abhalten. Oft reiste er mit Norbert nach Australien, mit Camper oder Jeep fuhren sie in die Nationalparks. Einmal, als ein Gewitter über ihnen wütete, die Blitze durch den Himmel zuckten, sagte Michael, dass es völlig in Ordnung wäre, wenn es hier und jetzt vorbei wäre.

Immer wieder war es fast so weit, immer wieder wurde er vom Defibrillator, von Norbert und den Ärzten zurückgeholt. Die beiden heirateten, kauften sich eine große Altbauwohnung am Adenauer Platz, Michael richtete sie ein, geschmackvoll, mit Stil, wie immer.

Schließlich musste Michael einsehen, dass all sein Optimismus seinen Körper nicht wieder gesund machen würde. Im Krankenhaus, im Rückblick auf sein Leben, sagte er, dass es ein Glück war, dass es Norbert gab. Als Michael starb, war Norbert an seiner Seite. Als es vorbei war, setzte sich Norbert auf sein Fahrrad, stellte sich vor, wie Michael auf seinem Gepäckträger Platz nehmen und sagen würde: „Fahren wir jetzt endlich nach Hause oder was!“

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