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Nachruf auf Ragnar Vogt: Das machte was
Die Kinder hatten Angst vor dem Atomkrieg und ein riesengroßes Interesse an der Welt.
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Da standen sie, Ragnar und Manuela, Hand in Hand und versprachen, beieinander zu bleiben, in guten wie in schlechten Zeiten. Ragnar sah in seinem blauen Sakko richtig gut aus, geschniegelt und frisiert, glühend vor Stolz und Freude. Mutter, Schwester, Kinder, alle waren da. „Aufgeregt war er und richtig süß“, sagt Manuela.
Dieser 8. Mai 2024 war endlich mal wieder ein guter Tag: Kitsch, Lachen, Tränen und am Ende Fischbrötchen. Eigentlich hätten sie nie so schnell einen Hochzeitstermin erhalten und schon gar nicht in dem schönen Standesamt in Werder an der Havel. Doch Ragnar hatte Krebs und war eben aus der Intensivstation entlassen worden. Da ging das. Wie viele Monate blieben ihm, vielleicht ein Jahr?
Zwei Schwestern und Ragnar, die Mutter war Lehrerin, der Vater gründete die Grünen mit. Sie kümmerte sich um den Haushalt, gab den Kindern Halt und Liebe, brachte das Geld nach Hause. Er war unterwegs für die Partei, den Frieden und gegen die Atomkraft. Kam die Mama nach Hause und legte sich erstmal hin, kuschelten ihre Kinder sich an sie; Ragnar, der kleinste, lag auf ihrem Bauch. Eine halbe Stunde, dann klatschte die Mama in die Hände: Jetzt einen Tee!
Zur Wohnung in Lichterfelde Ost gehörte ein schöner Garten, darin ein kleines Häuschen, das war ihre Villa Kunterbunt. Die Kinder stromerten umher, kletterten unter der S-Bahnbrücke über den Teltow-Kanal. Immer dabei war Jule, eine Schulfreundin von Ragnar, die sie quasi adoptiert hatten. Im Sommer fuhren sie nach Arla in Schweden, wo die weitverzweigte Familie ein Grundstück hatte: Plumpsklo, kein Strom, dafür Seen und Wälder.
Schräge Blicke
Umzug in die Pfalz, in die Heimatstadt des Vaters, der inzwischen in den Bundestag eingezogen war. Jeder im konservativen Bad Dürkheim wusste, dass sie die Kinder dieses Grünen-Abgeordneten waren, was ihnen schräge Blicke einbrachte. Als kleine Kinder schon waren sie bei den Anti-Atom-Protesten in Wyhl dabei, wo Mitte der 70er ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte. Sie erlebten ihren Vater, wie er an ihrem Küchentisch das „Umweltmagazin“ erstellte.
Das machte was. Die Kinder hatten Angst vor dem Atomkrieg und außerdem ein riesengroßes Interesse an der Welt. Ragnar verschlang die Nachrichten, Frankfurter Rundschau, Spiegel, Tagesschau und Deutschlandfunk.
Abi, Zivildienst, Biologie-Studium an der FU in Berlin. Er interessierte sich für Pflanzen, fürs Gehirn, für Symbiosen. Außerdem für Partys, Tanzen und Gemeinsamkeit. Sie kochten zusammen in der WG und diskutierten, bis es wieder hell wurde. Ragnar liebte die Debatte; ein Ende finden, das war schwierig.
Studium abgeschlossen, doch jetzt ging es nicht weiter. Er wollte ja gar kein Biologe werden. Also arbeitete er erst einmal in einem Call-Center, nur eine Zwischenlösung. Die sieben Jahre dauerte. Was hielt ihn? Vielleicht war es der Schock, seine Schwester, schwer krank, war gestorben.
Sein Vater vermittelte ihm ein Praktikum bei einer Zeitung, und Ragnar fing Feuer. Er wurde an der „Evangelischen Journalistenschule“ angenommen, er fand einen ersten Job als Nachrichtenredakteur bei der „Netzzeitung“. Als Russland seine Panzer nach Georgien schickte, stellte er die ersten Meldungen ein. „Die Bilder erscheinen mir wie ein irreales Déjà-Vu aus den Dokus über den Zweiten Weltkrieg“, schrieb er später in einem Text über sein Leben. Bei „Zeit Online“ hatte er Nachtschicht, als Trump 2016 Präsident wurde.
Ragnar lernte Julia kennen. Sie verliebten sich, er wollte ein Kind, sie auch, und bald kam Carla auf die Welt. Die Beziehung hielt nicht. Sie wollte fünfe gerade sein lassen, er wollte alles bis ins Kleinste ausdiskutieren. Einig waren sie sich, dass sie gemeinsam und gleichberechtigt ihre Carla großziehen wollten. Erst im Wechsel von ein paar Tagen, dann im Wochenwechsel. „Er war sehr zuverlässig“, sagt Julia. Und Ragnar? „Ich habe den Stift fallen lassen, wenn das Kind krank war, habe um Punkt 17 Uhr Feierabend gemacht, damit ich mein Kind abholen kann“, schreibt er.
„In unserem kleinen Universum“
Ragnar traf Manuela wieder, zufällig. Sie waren schon einmal ein Paar gewesen, hatten sich aber aus den Augen verloren. Sie redeten stundenlang. Der Funke war wieder da.
Eigentlich konnte sie sich keine Kinder vorstellen, doch Ragnar zu sehen, wie er mit Carla umging, gab ihr Sicherheit. Alma wurde geboren und wieder nahm Ragnar seinen vollen Teil der Elternzeit. Auch seine Nichte mochte er sehr, nahm sich Zeit, hörte zu und spielte mit ihr.
Gemeinsam durchlebten sie Corona, „gemütlich in unserem kleinen Universum“, fuhren, wann immer möglich, in den Urlaub, Schweden, Brandenburg, Frankreich. Oft schnappte sich Ragnar beide Kinder und verbrachte das Wochenende mit ihnen an einem See. Wann immer Manuela ausgehen wollte, tanzen, feiern, Freunde treffen, konnte sie das; Ragnar war da.
Er entschied sich, aus dem Nachrichtenstrom auszusteigen. Die Frühschichten waren einfach nicht kinderfreundlich. Als Biolehrer wollte er den Quereinstieg wagen und stand von jetzt auf gleich vor seiner ersten Klasse. Es war hart, und es machte ihm auch Spaß.
2023 wurde Speiseröhrenkrebs diagnostiziert. Er konnte kaum noch schlucken. Heilung bestünde nicht, hieß es.
Was, wenn er noch ein paar Wünsche freihätte, so wie in dem Film „The Bucket List“, in dem zwei alte Männer sich ihre letzten Träume erfüllen, Fallschirmspringen, die Pyramiden sehen, auf den Mount Everest steigen? Ragnar schreibt: „Mir fällt nichts ein, außer dass ich mit Manuela, meine große Liebe, und meinen geliebten Töchtern Alma und Carla möglichst viel Zeit verbringen möchte.“ Also kämpfte er mit jeder elenden Chemo gegen den Krebs. Jeder Moment, jeder Urlaub war ein Geschenk. Im vorletzten Sommer konnte er noch die Schnitzeljagd für Almas Geburtstag vorbereiten, zwei Torten backen, auch wenn er dafür Tage brauchte. Und er konnte die Kinder mit dem E-Fahrrad in die Kita und zur Schule bringen. Alles, was er konnte, solange er’s noch konnte.
Bis er starb, in dem Moment, als keiner da war.
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