zum Hauptinhalt
Siegfried Weiskönig

© privat

Nachruf auf Siegfried Weiskönig: Warst du dieser Reporter?

Er war freundlich und witzig, er half, wo er konnte. Wenn man aber nach seinen 40 DDR-Jahren fragte, schwieg er

Von David Ensikat

Stand:

Manchmal erkannte ihn seine Mutter nicht mehr, wenn er sie im Heim besuchte. Sie verwies ihn schroff des Raumes, ausgerechnet ihn, der sich so sehr um sie bemühte, dass die Pfleger ihn zum Mustersohn erklärten. Ein Mustersohn weiß jedoch, was seine Mutter liebt, diese hier Bananen. Wenn sie ihn nicht erkannte und so streng wurde, zog er eine Banane aus der Tasche, und sie wurde froh und sanft.

Ben, der Oberpfleger in dem Heim, war von Siegfried, dem Mustersohn, so angetan, dass sie sich anfreundeten. Siegfried, der sich bereits im Rentenalter befand, hatte einen schönen Humor, war klug und umsichtig. Er kleidete sich nur etwas merkwürdig, ein bisschen wie ein übrig gebliebener Nachrichtensprecher aus den Siebzigern, altes graues Sakko mit einem viel zu breiten Schlips.

Ben gelang es, die Malerei zum Beruf zu machen, so erfolgreich, dass er jemanden brauchte, der ihm beim Bürokram half, Rechnungen, Steuern, Kontakte. Siegfried fragte, ob er helfen könne. Seine Mutter war gestorben, er hatte viel Zeit.

Ben richtete ihm ein Büro ein und freute sich, dass Siegfried auch vorbeikam, wenn es kaum etwas zu tun gab. Der Maler, der Siegfrieds Sohn sein könnte, sagt, er habe sich schon immer gern mit älteren Menschen umgeben. Mit Siegfried konnte er über alles sprechen, er habe so viel über die Menschen und die Welt gewusst, war gut gelaunt und witzig und warnte ihn zuweilen vor Leuten, die es, anders als er selbst, nicht so gut meinten.

„Seht, welche Kraft!“

Nur zweierlei ging gar nicht. Zum einen die Sache mit dem Geld. Auf keinen Fall wollte Siegfried Geld für seine Dienste. Er hätte Rechnungen stellen können, Ben hätte ihn auch angestellt. Nein, das hier sei was anderes, er freue sich, wenn er helfen könne, und wenn Ben ihn immer mal zum Essen in teure Restaurants einlud, ging das eigentlich schon viel zu weit.

Das andere war die Vergangenheit, Siegfrieds Geschichte. Wenn Ben ihn danach fragte, kam gar nichts. Ben googelte natürlich, er stieß auf einen Siegfried Weiskönig, der Rundfunk-Reporter in der DDR gewesen war. Ein Tondokument aus dem Jahr 1963 findet sich im Netz, da berichtet er von der Ausstellung „Seht welche Kraft“: „Wir sehen Exponate, die den wissenschaftlich technischen Weltstand darstellen und von den Werktätigen unserer Republik entwickelt und gerade jetzt in den Tagen der Vorbereitung des sechsten Parteitages hergestellt worden sind.“ Die Stimme klingt so hoch, so jung und schwärmerisch, dass Ben sich kaum vorstellen konnte, dass das sein alter Freund gewesen sein soll. Er fragte ihn: Bist du das? Warst du dieser Reporter?

Siegfried nickte und winkte ab: Nichts, worauf er stolz sei, nichts worüber es sich lohne, groß zu sprechen. Gut, dann wollte Ben nicht weiter in ihn dringen. Was wusste er schon von den alten DDR-Geschichten? Nur das eine noch: Du kannst doch nicht immer schon allein gewesen sein. Gab es mal eine Frau in deinem Leben? – Ja, die gab es, Angelika hieß sie, aber Angelika ist in den Westen abgehauen, Anfang der Siebziger. Er habe dann sogar selbst in den Westen fahren dürfen, um sie zu überreden, zurückzukommen, doch sie wollte nicht.

Als er ihm das so knapp erzählte, hatte Ben den Eindruck, dass der Schmerz darüber, 40 Jahre später, noch nicht ausgestanden war. Was da genau geschehen ist, wie es kam, dass sie Siegfried hinterherfahren ließen, war nicht herauszubekommen. So resolut verweigerte er jede weitere Auskunft, dass Ben auch hier nicht weiter fragte.

Die Wohnung: Top-Lage, drinnen nicht so top

Die Jahre vergingen, Ben hatte Erfolg mit seiner Kunst, Siegfried kümmerte sich um das Büro und machte sich immer große Sorgen, wenn Ben auf Reisen war. Und auch Ben machte sich Sorgen um Siegfried: Musste der denn immer so komisch angezogen rumlaufen? Die alten Sachen waren nicht nur modisch fragwürdig, sondern auch fadenscheinig. Er kaufte ihm gute, teure. Viel zu teuer, befand Siegfried, hängte sie in seinen Schrank und zog sie niemals an.

Erstaunlich, dass Siegfried Ben mal zu sich in die kleine Wohnung ließ. Seit Anfang der 80er wohnte er im Plattenbau ganz nah beim Alexanderplatz, Top-Lage, drinnen nicht so top. Der Teppich wellte sich, die Möbel – zerbröselnder DDR-Standard. In der Küche stapelten sich die Plastikverpackungen, die Siegfried, warum auch immer, nie wegwarf. Als er dann mal eine Reise unternahm und für zwei Wochen weg war, ließ Ben kurzerhand das alte Zeug raustragen, die Wände malern, die Auslegware erneuern. Übergriffig, könnte man meinen – oder hilfreich.

Als Siegfried wiederkam, setzte er sich erstmal hin und schwieg für eine Weile. Und sagte schließlich: Ist wohl besser so.

Er ist auf Helgoland gestorben. Dort musste Ben eine Ausstellung vorbereiten und hat ihn mitgenommen. Etwas mit dem Herz, dazu eine zweifelhafte Krankenhausbehandlung.

Im Testament ist Ben als Alleinerbe benannt. Siegfried hatte ja keine Kinder, Ben war so etwas wie der Quasisohn seiner späten Jahre. Einer, der wenig über seinen Quasivater wusste. In Siegfrieds Schränken fanden sich Unterlagen, die ein bisschen mehr über sein altes Leben verraten. Journalismusstudium in Leipzig, dann Reporter, Januar 1988 Aufstieg in die Chefredaktion des Berliner Rundfunks, ein Jahr später schon wieder der Ausstieg, warum auch immer, Verdienst zu jener Zeit: 1800 Mark der DDR. Auf Fotos steht er neben Ulbricht, Stoph, Honecker und hält das Mikrofon.

Neben dem Reporterjob war Siegfried Reiseleiter. So kam er durch die Welt, ein treuer Bürger seines Landes, so treu, dass er immer wieder heimkehrte. Und Bericht erstattete – das gehörte zum Job eines Reiseleiters im Land der seltenen Reisen.

Wer weiß, womöglich waren es die Kontakte zur Staatssicherheit, vielleicht die Treue zu dem untergegangenen Land, die ihn mit Scham erfüllten, dass er über seine 40 DDR-Jahre kaum etwas preisgab. Im Schrank lagen Urkunden und Auszeichnungen: Aktivist der sozialistischen Arbeit, Touristenabzeichen, Gerhart-Eisler-Plakette für ausgezeichnete journalistische Leistungen, Verdienstplakette des Friedensrates der DDR. Und drei Fotos, auf denen eine Frau an seiner Seite strahlt, bestimmt war das Angelika.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })