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Tahsin İncirci

© privat

Nachruf auf Tahsin İncirci: Jede Sache hat ihr Gutes

Als Vater war er schwer greifbar. Aber sein Chor sang Lieder aus dem türkischen Arbeiterkampf wie auch die von Brecht und Eisler

Stand:

Ob das Geburtsjahr 1938 stimmt? Es kann auch 1939 oder 1940 gewesen sein. So genau nahm das niemand in dem kleinen türkischen Dorf an der Schwarzmeerküste. Einfache Bauern waren seine Eltern. Konnten sie lesen, schreiben? Unwahrscheinlich. Und vielleicht wäre Tahsin auch ein einfacher Bauer geworden. Anpacken musste er ja schon, Haselnüsse entkernen, Gemüse gießen.

Doch die Regierung brachte Schulen aufs Land, schickte Lehrer in die Dörfer, die begabte Bauernkinder unterrichteten, nicht nur in praktischen Dingen, sondern auch in Musik und Dichtung. Der Lehrer, der in das Dorf von Tahsin kam, sah etwas in dem Jungen, nahm sich seiner an und brachte ihm das traditionelle Saiteninstrument Saz bei. Tahsin hatte Talent.

Mit 15 verließ er seine Eltern und die zwei Geschwister, sein altes Leben. Es ging nach Ankara, die junge Hauptstadt der Republik. Ein Musik-Internat war sein neues Zuhause. Schubert mochte er besonders, und er ging eine Bindung fürs Leben ein: Der Geige schenkte er von nun an seine ganze Aufmerksamkeit. Wenn er sie spielte, schwang sein Oberkörper leicht hin und her, die Geige war sein Kind, der Geigenkasten die Wiege. Heilig waren sie beide, später würde er Fotos von seinen Enkelkindern in dem Geigenkasten aufbewahren, auch wichtige Dokumente und Briefe.

„Sie sind ein Faschist!“

Einer dieser Briefe, vorne in dem Fach, in dem auch die Ersatzsaiten und der Bogenharz steckte, war von Eduard Zuckmayer, dem älteren Bruder von Carl Zuckmayer. Ein deutscher Musikpädagoge, der vor den Nazis nach Ankara geflohen war. Er brachte die Musikpädagogik in die Türkei. Tahsin studierte bei ihm, die beiden freundeten sich an, und als Tahsin sich Anfang der 70er Jahre längst für ein Leben in Berlin entschieden hatte, schrieb Zuckmayer ihm diesen Brief: „Wie ich lese, bist Du ein echter Berliner geworden. Ja, ich bin traurig, dass Du nicht zurückkommst. Doch jede Sache hat ihr Gutes, hoffentlich bist Du mit Deinem Weg glücklich.“

Anfang der 60er Jahre war Tahsin zum ersten Mal nach Berlin gekommen. Mit einem Stipendium des DAAD studierte er Geige, Komposition und Chorleitung an der Universität der Künste. Abwechselnd wurde er von den Professoren belächtelt oder als Vorzeige-Türke gehandelt, der gar nicht so rückständig sei wie die anderen Gastarbeiter. Einmal hielt er es nicht mehr aus, stellte sich hin und sagte: „Sie sind ein Faschist“.

Dann der Militär-Putsch in der Türkei, der Vietnamkrieg, die Demos der Studenten. Die Musik war nun das eine, die Politik das große andere: Sie diskutierten über eine andere Gesellschaft, kommunistisch, sozialistisch, Hauptsache nicht kapitalistisch. Und dann kam Elisabeth dazu. Im Uniorchester ist es geschehen, sie spielte auch die Geige. Sie war 20, er 26. Nachts stieg er bei ihr durchs Fenster, ihre Wirtin duldete keinen Männerbesuch.

Debatten in der „Dicken Wirtin“

1965 kam Angela auf die Welt. Windeln wechseln? Das war nicht seins. Demonstrieren, Geige spielen, in der „Dicken Wirtin“ am Savignypklaz debattieren, das schon eher. Elisabeth ließ sich das nicht gefallen. Und Tahsin war kein Vater, auf den Angela sich verlassen konnte. Doch die Liebe zur Musik, Geige spielen, seine schönen braunen Augen – das hatte sie von ihm. 

1973, Tahsin kam ein zweites Mal nach Berlin. Erst hatte er seinen Wehrdienst in der Türkei geleistet, danach zwei Jahre an der Oper in Istanbul gearbeitet. Nach dem Militärputsch 1971 erschien ihm das Leben in der Türkei unerträglich. Mit ihm kam Fatoş nach Berlin, seine zweite Frau. Sie hatte ihre Schwester einmal die Woche zu einem Ballettkurs in der Oper gebracht, da lernten sie sich kennen.

Berlin also, tagsüber unterrichtete er Geige an der Musikschule Zehlendorf. Abends fuhr er nach Kreuzberg zum Türkischen Arbeiterchor Westberlin. Den hatte er gegründet und brachte Menschen das Singen bei, zuvor am Fließband standen und von Noten keine Ahnung hatten, die meisten Arbeitsmigranten der ersten Generation oder politische Flüchtlinge. Sie sangen türkische Volks- und Kampflieder sowie Brecht-Eisler-Lieder auf Deutsch und, von Tahsin übersetzt, auf Türkisch.

Sie sangen auf Kreuzberger Demonstrationen, traten mit deutschen Gewerkschaftschören auf, nahmen Schallplatten auf, die vor allem in der Türkei viel verkauft wurden. „Wenn Tahsin einem das Singen beibringt, war er die absolute Ruhe, er war sanft, aber bestimmt, durchaus streng und leitete uns durch die Strophen.“ So erzählt ein Freund. Für viele war Tahsin sehr wichtig, sie verehrten ihn.

Auch um Aslı, seine zweite Tochter, musste sich vor allem die Mutter kümmern. Wieder war da die Sehnsucht eines Kindes nach dem kaum greifbaren Vater. Sein Schreibtisch war ein heiliger Ort, hier schrieb er seine Noten, hier hielt er Ordnung. Er las sehr viel, Hermann Hesse am liebsten, und unterstrich, was er sich merken wollte. Auch Asli ließ sich von seiner Liebe zur Musik anstecken, spielte Klavier. Und erinnert sich an seine sensible Art, seine Notizen über Gefühle und Beobachtungen, und wie er jedem Streit aus dem Weg ging. Lieber schwieg er, ging in sein Zimmer und schloss die Tür.

Tahsin komponierte ein Oratorium, das im Funkhaus des SFB uraufgeführt wurde. Er schrieb eigene Lieder, die auf Platte erschienen. Machte Musik für Theaterstücke in Amsterdam. Lebte für sechs Monate in Paris, um mit einer Theatergruppe zu arbeiten. Schrieb ein Buch über neue türkische Musik. Gründete noch ein Ensemble in Kreuzberg, und noch eine Band.

Er lebte in der Musik und für die Musik, bis es nicht mehr ging. Er lag im Krankenhaus, seine Freunde besuchten ihn, seine Familie war an seiner Seite, Aslı war da, und auch Angela kam ihn besuchen. Als er immer schwerer atmete, machte Aslı Schubert an und öffnete das Fenster.

Nun liegt er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wo auch Brecht und Eisler liegen und so viele andere deutsche Künstler.

Abwechselnd belächelten ihn die Professoren oder handelten ihn als Vorzeige-Türke

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