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Traudl Vorbrodt

© privat

Nachruf auf Traudl Vorbrodt: „Nimm nichts einfach so hin“

Ihr Anspruch, „als einzelne, alte, dicke, kleine Frau etwas ändern“ zu wollen, stieß viele vor den Kopf.

Stand:

„Stell dir doch den armen Thor / mal nackich auf dem Töpfchen vor.“ Diesen Vers hatte die Großmutter sie gelehrt, als sie spürte, dass Gertraud, so der Taufname, viel zu viel Respekt vor ihren Lehrern hatte. „Nimm nichts einfach so hin!“ Der Ratschlag half. Aus der braven Gertraud wurde die aufmüpfige Traudl, die sich von nichts und niemand einschüchtern ließ.

Ein Dorf in Franken, ein Forsthaus mitten im Wald. Die Großmutter stammte aus einem uralten Adelsgeschlecht. Die Mutter ehemalige Verkäuferin. Der Vater, Forstwirt, musste in den Krieg. Er starb auf der Krim, erschossen, wegen Befehlsverweigerung vermutlich. Im Haus regierten die Frauen. Von den Nazis ließen sie sich da nicht reinreden. Schlimm genug, dass Traudl an Hitlers Geburtstag geboren war. Fahnen hissten sie ihm zu Ehren deswegen noch lange nicht. Stattdessen färbte die Großmutter jüdischen Mädchen die Haare blond, versteckte sie im Keller und besorgte Papiere für die Ausreise nach England. Die Zwangsarbeiter auf den Feldern durften im Haus ein- und ausgehen, wurden bekocht. Es gab keine Menschen zweiter Klasse im Hause der Familie von Münster.

„Meine Oma hat mir beigebracht, wie viel tolle und interessante Menschen es in andern Völkern gibt“, erzählte Traudl im Alter in einem Taz-Interview. „Von ihr hab ich gelernt: Nimm nichts einfach so hin.“

Das Geld war knapp im Haus. Traudl konnte nicht studieren. Sie ließ sich zur Kinderkrankenschwester ausbilden. Wollte raus aus der Provinz. Zog nach Berlin, wo sie Eberhard kennenlernte. Ein Student der Medizin, stets flott unterwegs in seinem Triumph-Spitfire-Cabrio. Sie war eine Adrette, die mit ihm von Anfang an auf Augenhöhe stand.

Besuche in der Abschiebehaft

Traudl marschierte mit Rudi Dutschke, kaum da die außerparlamentarische Opposition sich formiert hatte, schwenkte Fahnen und forcierte energisch die Familienplanung. Sie wollte viele Kinder, Eberhard eher weniger, es wurden fünf, drei Jungs, zwei Mädchen, die in Kladow in einem Haus lebten, so hell und geräumig, dass es wie für Gäste geschaffen war. Die Tür stand immer offen und viele spazierten herein, Mensch wie Tier. Im Garten flatterten Sittiche und Wachteln. Schildkröten krochen umher, Hasen, Katzen, Fische: Traudls Arche Noah in ihrem Garten Eden.

Eberhard praktizierte als Frauenarzt in Spandau, Traudl kümmerte sich um das Haus, die Kinder und half in der Praxis. Es war beider Idee, kostenlose Sprechstunden für Geflüchtete anzubieten. Traudl hatte in Spandau tamilische Flüchtlingsfamilien kennengelernt und war entsetzt über deren Lebensverhältnisse. Keine Schulbildung für die Kinder, keine medizinische Versorgung, kein Verständnis für die Sorgen der Heimatlosen. Traudl half, wo sie konnte. Wirkte bei der Flüchtlingshilfe von Pax Christi mit, beriet Menschen bei ihren Asylanträgen, begleitete sie bei ihren Verfahren, besuchte sie in der Abschiebehaft. Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis boten Eberhard und sie heimlich Unterkunft im Haus, für Wochen, für Monate. Sie teilte ihre Liebe unter vielen auf, wurde von vielen Mama genannt, was ihre jüngste Tochter mit acht Jahren einmal fürchterlich zum Weinen brachte: „Ich würde auch gern ein Tamile sein, dann hättest du mehr Zeit für mich.“

Traudl wusste, sie musste ihre Zeit besser einteilen – was nicht ganz einfach war, denn schon 1990 war sie in die Berliner Härtefallkommission berufen worden. 20 Jahre half sie mit, die schwere Entscheidung zu treffen, welche Flüchtlinge eine letzte Chance auf ein Aufenthaltsrecht bekamen. Das ging ans Herz. Denn jeder Beschluss entschied über den Lebensweg eines Menschen. Hunderte von Schicksalen, die ihr immer näher gingen. „Was hast du beigetragen, dass der oder die jetzt abgeschoben wird? Ich konnte mich nicht mehr lösen. Es waren keine Fälle mehr, ich war zu dicht dran an den Leuten.“

„Keiner hat das Recht zu gehorchen“

Eberhard hatte schon 1997 seine Praxis aufgeben müssen, Herzprobleme. Das Geld war knapp, Wirtschaften im großen Haus nicht immer einfach. Sie nahm eine Stelle als Erzieherin in der Jugendhilfe an. Zur Kirche hingegen ging sie immer mehr auf Abstand. Als sie mit Jugendlichen aus ihrer Gemeinde in Kladow Brot aus Mülltonnen klaubte und es vor dem Kirchenaltar stapelte, kam das bei vielen Gemeindemitgliedern nicht gut an. Ihr Anspruch, „als einzelne, alte, dicke, kleine Frau etwas ändern“ zu wollen, stieß viele vor den Kopf. Sie hingegen dachte gar nicht daran, sich mit schönen Worten abspeisen zu lassen. „Ich höre die Sonntagspredigt darauf hin, was am Montag getan wird.“

Mit einer Kirche, die Gehorsam forderte, hatte sie nichts im Sinn. Da berief sie sich auf Hannah Arendt: „Keiner hat das Recht zu gehorchen.“ Aber ihre Rastlosigkeit mündete zunehmend in einer gewissen Ratlosigkeit. „Wie kannst du jetzt in den Urlaub fahren, während die Leute in Abschiebehaft sitzen? Mit diesen Zweifeln wirst du keinem mehr gerecht.“ Sie schied aus der Kommission aus. Zufrieden war sie nicht mit ihrer Arbeit, denn es war immer zu wenig. Aber dankbar war sie: „Ich habe überall Freunde, auch wenn einige schon längst wieder in Äthiopien, Togo oder bei den Tamilen sind. Das gibt mir das Gefühl, dass ich wohl nie einsam werde. Dass ich überall Menschen mit einer ganz anderen Kindheit und einer ganz anderen Sprache habe, zu denen ich jederzeit gehen könnte.“ Aber da machten ihre Knochen nicht mehr mit. Sie wollte mehr, als sie konnte. Was sie gehörig ärgerte. Trotz der Kinder, die um sie herum waren, und der vielen Enkel, es war nicht mehr der ganz große Trubel wie früher im Haus.

Das Bundesverdienstkreuz, das ihr 2008 verliehen worden war, gab sie 2018 zurück, weil sie mit der Flüchtlingspolitik nicht einverstanden war. Ihren Sturkopf behielt sie auch beim Autofahren, was zu gelegentlichen Lackschäden führte, und beim Rauchen. Sie starb daheim, auf ihrer kleinen Bank, mit Blick ins große Wohnzimmer, das immer voller Gäste gewesen war. Die letzte Zigarette verglomm auf dem Boden. Kirchliche Zeremonien hatte sie sich bei der Beerdigung verbeten. Stattdessen die klare Ansage an die Trauernden, beim Herablassen der Urne ins Grab ihr Lieblingslied zu singen: „Die Gedanken sind frei.“

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