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Veronika Schneider

© Michael Hinz

Nachruf auf Veronika Schneider: „Du hast dein Vaterland verraten!“

Warum nur verteidigte sie so lange das System, dem sie entflohen war?

Von David Ensikat

Stand:

Als wir aus dem Kofferraum klettern, bin ich immer noch benommen, und beim Blick zurück sehe ich in der dunklen Nacht die Lichter des Grenzkontrollpunktes, der vom Westen aus Helmstedt heißt. Verrückterweise lösen diese Lichter direkt Heimweh bei mir aus. Vielleicht ahne ich bereits, dass noch eine lange Odyssee vor mir liegt, bevor ich erkennen werde, dass ich zuerst die Vergangenheit und all die auswendig gelernten Lügen loslassen muss, bevor ich mich frei fühlen kann.

Es war der 2. September 1973. Im Jahr davor hatte die DDR den Grundlagenvertrag mit der Bundesrepublik unterschrieben, außerdem wollte sie Mitglied in der UNO werden; deshalb wurden an der Grenze nur noch wenige Autos genauer kontrolliert. So gelangte der Audi 100 unbehelligt in den Westen, in dessen Kofferraum sich Veronika befand nebst Wolfgang.

Und nun also stand sie da und hatte ihre Freiheit, doch ihre Heimat hatte sie verloren. Geborgenheit hätte ihr Wolfgang bieten können, wenn sich die beiden noch geliebt hätten wie damals, als sie die Flucht geplant hatten.

Veronika war 21 und sehr allein. Ein Gefühl, an dem auch ihre Westtante nichts ändern konnte. Die hatte sie früher schon mit Westklamotten versorgt, und schenkte ihr jetzt einen Haufen neue. Veronika wusste gar nicht, wie sie reagieren sollte. In ihren Erinnerungen schreibt sie: Jetzt hatten diese Kleidungsstücke plötzlich so ein diffuses Image von Almosen für mich. Ich fühlte mich beschämt. Fast hatte ich das Gefühl, meiner Tante durch die Annahme ein Mitspracherecht für mein neues Leben geben zu müssen. Vielleicht hatte ich Sorge vor einer Bevormundung, der ich doch erst entflohen war.

Niemand da, der sie verstand

Lauter freundliche und selbstbewusste Menschen lernte Veronika kennen, aber niemanden, der sie verstand. Wie denn auch, sie selbst verstand ja nicht, was in ihr vorging. Warum sie sich etwa weigerte, als „politischer Flüchtling“ zu gelten. Wer aus dem Osten in den Westen kam, wurde einer Reihe von Befragungen unterzogen. Ja, sie hatte sich eingeengt gefühlt in der DDR. Ja, sie wollte frei sein. Warum konnte sie nicht sagen, dass sie einem üblen politischen System entkommen war?

Ihre Eltern waren 19, als sie zur Welt kam, der Vater arbeitete als Mechaniker und studierte abends, die Mutter arbeitete am Fließband. Anfangs wohnten alle noch bei Veronikas Großeltern in der Zehdenicker Straße, Berlin-Mitte, dann bekamen die Eltern eine nagelneue Wohnung in der Stalinallee. Der Vater wurde Ingenieur, war ehrgeizig – solche Menschen brauchte das Land und versorgte sie, so gut es ging.

Weil die Eltern viel zu tun hatten, blieb Veronika vorerst bei den Großeltern, einfache, liebevolle Leute. Ihre Oma arbeitete im Westen und nahm das Kind oft mit dorthin zum Einkaufen. Bis zur Bernauer Straße, wo der Westen anfing, war es nicht weit. Da gab es Schlagsahne in der Waffel und die Frau im Kiosk, die mit ihrem Goldschmuck klimperte und West- in Ostmark tauschte. Unbeschwerte Zeiten. Wenn Veronika am Wochenende aber bei den Eltern war, ging es ihr nicht so gut. Da gab es kein Spielzeug, und sie durfte auf keinen Fall den Vater stören, der am Schreibtisch saß.

Als sie in die Schule kam, zog sie ganz und gar in die Stalinallee. Was das bedeutete, beschrieb sie so: Bei meinen Großeltern konnte ich sein. Bei meinen Eltern musste ich werden. Je schwerer erreichbar ihr Vater war, desto mehr wollte das Mädchen ihm gefallen. Er wurde etwas, also wollte auch sie etwas werden. Veronika spürte, dass der Vater auf die Mutter, die eine einfache Arbeiterin blieb, herabsah. Und wollte ihm beweisen, dass sie zu mehr imstande war. Dass sie mit Einsen aus der Schule heimkam, verstand sich von selbst.

Es kam der August 1961, es kam die Mauer. Veronikas Großeltern waren nicht lange davor in den Westen umgezogen, in den Wedding, wo die Oma früher mit Veronika einkaufen war. Jetzt lag Stacheldraht auf der Bernauer, Veronika stand mit der Mutter auf der einen Seite, die Oma auf der anderen. Tag für Tag gingen sie hin und winkten, dann wurden Mauersteine übereinander geschichtet, und sie konnten einander nicht mehr sehen.

Veronika, die Beste in ihrer Klasse, stolze Trägerin des roten Halstuchs, wurde in die Pionierrepublik „Wilhelm Pieck“ geschickt. Als sie heimkehrte, erklärte sie ihren Eltern, warum die DDR die Mauer bauen musste. Der Sozialismus stand auf dem Spiel! Die Mutter sagte, für derlei Weisheiten solle sie sich eine rote Ecke einrichten und sie dort verkünden. Der Vater war kein Freund der Funktionärsdiktatur, aber er wusste, dass solche Debatten hinderlich fürs Vorankommen waren. Und vorankommen musste man doch.

Die Tochter kam voran, legte ihr Abitur mitsamt Berufsausbildung zur technischen Zeichnerin ab und begann ein Kulturwissenschaftsstudium. Ihr Vater hatte sie in Theater und Konzerte mitgenommen, sie hatte Schauspieler kennengelernt, war, jung, schön und klug, in die Künstlerszene geraten. Sie fand Heiner Müller ein bisschen zu aufdringlich. Und sie erfuhr, dass im Land nicht alles zum Besten stand. Als ihr Studium zu einem Funktionärslehrgang umstrukturiert wurde, gab sie es auf. Kostümbild durfte sie nicht gleich studieren; zuerst sollte sie sich in der Produktion bewähren. In einer eiskalten Halle nähte sie Uniformen im Akkord und lernte eine ziemlich graue Seite ihrer roten Heimat kennen.

Einen ebenso verstörenden Eindruck hinterließen die Verhöre, zu denen sie vorgeladen wurde. Ein Freund von ihr hatte im Sommer 1968 gegen die russischen Panzer in der ČSSR protestiert. Die Beziehung zu ihm war längst passé, als die Polizei, oder wer auch immer das war, sie verdächtigte, etwas mit der Sache zu tun gehabt zu haben.

Eine mysteriöse Affäre

Und dann war da noch die Affäre mit dem 30-jährigen Mann mit den starken Schultern, an die sie sich so gern anlehnen wollte. Sie war 19, er verheiratet, allerdings mit einer Frau in Belgien. Das war mysteriös, aber affärentechnisch durchaus praktisch. Hin und wieder war er für ein paar Tage verschwunden, um sie danach zu einem schönen Essen einzuladen. Nach ein paar Monaten verlor er das Interesse an Veronika, just als sie feststellte, dass sie schwanger war. Hoffend, ihn mit der Botschaft noch umstimmen zu können, traf sie ihn ein letztes Mal an der Weltzeituhr. Mit finsterem Blick ließ er sie wissen, dass sie das Kind, sollte es von ihm stammen, selbstverständlich abtreiben müsse. Außerdem würde er demnächst ganz und gar nach Belgien umziehen. Was er sagte, jagte ihr einen Riesenschreck ein, wie er es sagte, eine große Angst. Sie sah ihn nie wieder. Gesprochen hat sie noch einmal mit ihm, doch dazu später.

Sie kam mit Wolfgang zusammen, der hatte einen Bruder, der in den Westen geflohen war. War es dort besser? Würde Veronika dort ihr Glück finden, gemeinsam mit Wolfgang? Sein Bruder fand Leute, die den beiden bei der Flucht halfen, einfach so, ohne Geld. Zuerst versuchten sie es über Prag, doch es gab Probleme mit den gefälschten Pässen. Immerhin wurden sie nicht festgenommen.

Mitten in der neuen Fluchtplanung ging die Liebe kaputt, aber sollte Veronika deshalb im Osten bleiben? Die Dinge nahmen ihren Lauf, ein Freund brachte sie im Škoda zu einem Parkplatz an der Transitstrecke. Dort wartete der Fluchthelfer im Audi mit der präparierten Rückbank. Sie stiegen ein und zwängten sich kurz vor der Grenze nach hinten. Schreckliche Minuten folgten, Veronika auf ihrem ehemaligen Geliebten, der nicht still sein konnte, warten vorm Kontrollpunkt, rechts ranfahren, Stimmen von Grenzpolizisten, weiterfahren, erst langsam, dann schnell und immer schneller. Dann hielten sie, der Fahrer öffnete den Kofferraum. Szenen, von denen sie Jahrzehnte später noch träumte.

Am nächsten Tag versuchte Veronika lange, ihre Eltern anzurufen. Als sie endlich durchkam und sagte, wo sie war, weinte die Mutter. Der Vater rief: „Du hast dein Vaterland verraten!“ Mit dem sozialistischen Vaterland hatte er selbst nicht viel am Hut. Wen wird er da wohl gemeint haben?

Wann immer sie konnte, rief sie in der folgenden Zeit bei ihren Eltern an, zuhause. Sie sagte, es gehe ihr gut, die Eltern hörten, dass das nicht stimmte.

Sie begann ein Studium, sie jobbte. Sie fühlte sich nicht zuhause. Alles so oberflächlich hier, jeder für sich, niemand für alle. Drüben, im Osten, hatte sie nicht dazugehört, hier auch nicht. Nach einem Jahr versuchte Veronika, sich das Leben zu nehmen.

Sie lernte einen Mann kennen, heiratete, zwei Jahre hielt die Ehe. Wichtiger aber: sie brachte David zur Welt, einen Menschen, für den es sich zu leben lohnte. Mit ihm zog sie nach Griechenland und kam mit Unterhalt und kleinen Jobs über die Runden. Gemeinsam mit einem Schotten kehrten sie zurück nach West-Berlin. Er wusste noch weniger als Veronika, was er mit sich anfangen sollte. Wodurch sie noch jemanden hatte, um den sie sich kümmern konnte.

Sie traf einen alten Bekannten, der auch geflohen war, und der mit ihrem mysteriösen älteren Geliebten befreundet war. Er hatte dessen Telefonnummer in Belgien. Sie freute sich; jeder Mensch mit Ostvergangenheit war ihr willkommen. Überraschenderweise habe ich ihn sogar bei meinem ersten Versuch gleich am Telefon und es sprudelt aus mir raus. Aber als wenn die Vergangenheit mit der Gegenwart verschmilzt, fühle ich wieder die Bedrohung, als er mit eisiger Stimme sagt: „Du legst jetzt sofort den Hörer auf, vernichtest meine Telefonnummer und vergisst diesen Anruf. Das ist das Beste, was du jetzt für dich selbst tun kannst!“ Später sollte sie erfahren, dass der Mann ein Spion der Stasi war.

Inzwischen hatten sich Veronikas Eltern scheiden lassen, und die Mutter war per Ausreiseantrag in den Westen gelangt. Sie überredete die Tochter, ihr Leben in eine geordnete Bahn zu bringen, warum denn nicht mit einer Arbeit bei der Verwaltung. Mag sein, dass der Bürojob das Leben überschaubar machte, aber etwas Undurchschaubares machte Veronika krank. Ihr Herz schmerzte, unentwegt, sie wurde untersucht, nach allem, was man sah, schien das Herz vollkommen intakt. Vier Monate verbrachte sie in einer Klinik. Sie überlegte, ob sie in die DDR zurückgehen sollte. Sie ging nicht zurück.

Als drei Jahre später die Mauer fiel, mietete sie eine Wohnung, ganz weit weg im Norden, und versuchte, sich zu sortieren. Warum ging es ihr so schlecht in dieser guten Zeit?

Missgünstige Bürokraten

Was half: ein neuer Mann und eine neue Stelle. Jürgen leitete das Referat für Behindertenpolitik, er holte Veronika zu sich, sie verliebten sich. Er erzählt von einer schönen Zeit, sie lebten und sie arbeiteten miteinander, sie feierten Erfolge, sie bewegten Dinge. Veronika mit ihrem technischen Sachverstand und ihrer forschen Art schien an einen Ort gelangt zu sein, an den sie passte.

Dass alte Dinge in ihr fortwirkten, blieb Jürgen nicht verborgen. Wenn sie über den Osten sprach, die verendete DDR, bewegte sie das tief. Immer noch verteidigte Veronika das System, dem sie entflohen war, weiß Gott, woran das lag.

Als Veronika und Jürgen heirateten, nahmen die Dinge einen unvorhergesehenen Verlauf. Missgünstige Bürokraten beharrten auf der Formalie, dass das nicht statthaft war, zwei Eheleute in einem Referat. Einer musste gehen. Jürgen war der Chef, Veronika ging.

Sie war 52, kaufte mit der Abfindung eine Ferienwohnung an der Ostsee – und fand keinen Job mehr, der annähernd so erfüllend war wie jener, den sie hatte aufgeben müssen. Für die Stelle der Behindertenbeauftragten von Potsdam schien sie wie geschaffen. Nur das Parteibuch, das man offensichtlich für die Stelle brauchte, fehlte ihr.

Veronika brach zusammen, sie begann mit einer weiteren Therapie. Und förderte das Undurchschaubare zutage.

Wen hatte sie verraten? Das Vaterland? Den Vater? Wem hatte sie nicht genügt? Sie konnte das Unsagbare sagen: Ich habe versagt. So falsch das war, so tief war es verborgen gewesen, gut behütet, ihr Geheimnis. Die Flucht aus dem idiotischen System war für sie mit dem Gefühl verquickt, die Idiotin zu sein, unreif für den Sozialismus. Die Ansprüche des Vaters – werde etwas –, die sich perfekt verbanden mit den Ansprüchen des Landes – werde gut! Und Veronika, die Einserschülerin, die Pionierin, die wusste, warum der Sozialismus eine Mauer brauchte, ist dann einfach weggelaufen.

Sie schrieb ihre Geschichte auf, für sich. Sie begann, sie anderen zu erzählen. Am 25. Jahrestag des Mauerfalls stand sie vier Stunden lang an der Bernauer Straße neben einer Stellwand, auf der ihre Geschichte mit Bildern dargestellt wurde, und erzählte auf Deutsch und Englisch: Hier stand meine Oma, dort drüben meine Mutter und ich. Sie machte Stadtführungen und erzählte an der Karl-Marx-Allee, wie sich die Neunjährige Veronika gewundert hatte, als auf einmal das große Stalindenkmal weg war und niemand darüber sprechen durfte.

Als sie im Hospiz lag und nicht mehr sprechen konnte, saß Jürgen bei ihr und las aus ihren Erinnerungen vor. Sind sie nicht der Beleg, dass Veronika die alten Fesseln gelöst hatte, dass sie endlich auf dem Weg in ihre Freiheit war? Jetzt will ich mein inneres, strebsames Vorzeigekind aus der Stalinallee abstreifen und wieder zur lebendigen Berliner Göre in der Zehdenicker Straße werden.

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