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Nachruf auf Wolfgang Siano: Die wilden Jahre der Theorie
Kein Tag ohne neues Manifest, keine Ausstellung ohne Skandal, keine Trinkrunde ohne Erörterung der ganz großen Fragen
Stand:
Am Anfang ist Dunkelheit. Am Anfang ist die Angst, dass diese Dunkelheit sich niemals lichtet. Denn wo in mir finde ich die Worte, die ausdrücken sollen, was ich fühle? Am Anfang ist die Erinnerung. Es gab dieses Dazwischen im Bett der Großeltern, das Grübchen, das zwei Welten trennte, aber eine wohlige Wiege schuf für ihn, den Enkel. Auf der einen Seite die flauschige Wärme der Großmutter, der parfümierte Geruch nach Mouson-Creme, auf der anderen der kantigere Opa, der streng nach Körper roch.
Beim Vater fand Wolfgang dieses Gefühl der Geborgenheit seltener, nicht zuletzt, weil er ihm die Trennung von der Mutter lange nicht verzieh. Aber der Vater wurde sehr alt, fast hätte er seinen Sohn überlebt, und so blieb Zeit zur Versöhnung. Denn so fremd waren Wolfgang dessen Temperament und Eigensinn nicht, aber lebendiger in ihm war die Sinnlichkeit der Mutter. Er liebte es, schöne Dinge zu schauen.
Der Weg aus dem Heimatort Lingen im Emsland führte über Köln, wo er sich für das Studium der Kunstgeschichte entschied, nach Berlin. Er geriet mitten hinein in die Jahre des ideologischen Tumults, als sich viele wie Titanen fühlten. Die Söhne waren nicht weniger überheblich als seinerzeit die Väter, nur lebten sie ihren Hochmut auf dem Schlachtfeld der Theorien aus. Und in der Kunst. Die explosive Stimmung in den Ateliers erzwang ein anderes Hinsehen. Die herkömmlichen Gesetze des Schauens galten nicht mehr. Was schön war und was hässlich, was Kommerz und was Kunst, musste neu gedacht werden.
Kein Tag ohne neues Manifest
Wolfgang zog dank eines Stipendiums für einige Monate nach New York, sah sich in Andy Warhols Factory um, ließ sich ein Autogramm geben, aber die Dissertation über Warhol schrieb er nicht. Keine Zeit, denn so viele neue Künstler und Künstlerinnen drängten nach vorn. Kein Tag ohne neues Manifest, keine Ausstellung ohne Skandal, keine Trinkrunde in der Wohngemeinschaft ohne die Erörterung der ganz großen Fragen. In diesen wilden Jahren der Theorie tat jeder so, als würde er begreifen, was er sagte. Adorno gab den Ton vor, und viele wollten denken wie er. Aber sie imitierten nur sein Sprechen. „Geliebt wirst Du einzig, wo Du schwach Dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.“
Ins Lebenspraktische übersetzt: Du musst eine Frau finden, die dich nimmt, wie du bist. Was im Fall Wolfgangs nicht ganz einfach war, weil seine Hingabe an die reine Theorie in seinen rebellischen Zeiten die Erörterung lebenspraktischer Fragen weitgehend ausschloss. Aber, in der Kunst war nur für wenige Geld zu verdienen. Das betrübte Wolfgang nicht weiter, solange es für ihn persönlich zum Leben reichte. Einer wie er war wie geschaffen dafür, Frauen unglücklich zu machen, durch seine Unbekümmertheit. Denn darin lag sein Charme. Dieses kindliche Lächeln, verschmitzt und zutraulich zugleich.
Er wusste, er würde Geborgenheit finden, wo immer er sie suchte. Als junger Mann lag er gern in der Badewanne, da ließ es sich frei denken, wie in der Wiege des Universums. Aber das Universum ist sehr groß, und es ist leicht, sich darin zu verlieren, insbesondere für einen passionierten Wanderer durch die Galaxien. Denn Wolfgang wurde von vielen Künstlern gebeten, Ausstellungen zu kuratieren und sich Gedanken über ihr Tun zu machen. Seine Texte in den zahlreichen Katalogen widmeten sich mit Hingabe deren Werken und waren zugleich Bausteine für seine ganz eigene Kunstlehre, die er nie in einem eigenen Lehrbuch zusammenfasste. Von diesen kleinen Arbeiten über die großen Dinge konnte er bescheiden leben. Die Magie der Theorie verlockt ohnehin zur Einsiedelei. Aber er hatte Glück, fand eine Familie, die ihm ein zweites Zuhause gab. Drei Töchter, die ihn adoptierten, und eine Frau, die ihn so nahm, wie er war. Ein Besessener.
Wie kommt die Kunst in die Künstler?
In seine eigene kleine Wohnung passten nur er und seine Bibliothek, die ihn zu erdrücken drohte, denn die Bücher stapelten sich in einer statisch undenkbaren Logik. Was Wolfgang nicht kümmerte. Seine Probleme waren andere. Denn so viel Mühe Adorno sich auch gegeben hatte, die wesentlichen Fragen der Ästhetik waren nach wie vor ungeklärt: Was ist Kunst? Und wie kommt die Kunst in die Kunst? Aber vor allem: Wie kommt die Kunst in die Künstler?
Wolfgang gab sich alle Mühe, diese Fragen zu klären. Er glich Sisyphos, der von ähnlich sportlicher Gestalt gewesen war und ähnlich unermüdlich Steine ins Rollen gebracht hatte. Denn die großen Fragen in der Kunst dienen doch letztlich vor allem dazu, das Denken in Bewegung zu halten, um sich nicht vorschnell mit Antworten begnügen zu müssen. Wozu sonst Kunst, wenn sich so einfach in Worte fassen ließe, was Künstler tun?
„Ich male mit den Arbeiten der anderen, das ist meine Komposition“, bekannte er, wenn es ihm auf einer Ausstellung wieder einmal gelungen war, Bilder und Objekte so überraschend zu platzieren, dass sie miteinander familiär wurden. Denn so sehr er den Monolog liebte, so glücklich war er, wenn er sich in einer Gemeinschaft wiederfand. Dann lächelte er sein Lächeln, von dem viele glaubten, es gelte nur ihnen ganz allein.
Wolfgang wurde vom Tod nicht überrascht. Schließlich hatte er sein Leben lang auf ihn hingedacht. Was ist Kunst anderes als Protest gegen die Hinfälligkeit? Aber das Sterben war nicht leicht für ihn. Er wollte leben. Mit jedem Atemzug. Er wollte nicht loslassen. Doch die Krankheit zwang ihn dazu, ALS. Er, der so gern aß, konnte nicht mehr schlucken. Er, der so gern sprach, konnte kaum mehr sprechen. Und zuletzt stockte ihm der Atem, über die Zumutung, ewig stillhalten zu müssen.
Sein Sterben widerspiegelte sein Denken. Es war ein Kampf. Eine wütende Auseinandersetzung mit dem, was nicht zu begreifen ist. Warum wird etwas ausgelöscht, was so zum Leben drängt? Eine Sehnsucht, so unauflöslich an den Körper gefesselt, dass sie mit ihm zugrunde gehen muss. Es sei denn, sie findet ein Versteck.
Am Ende ist die Erinnerung. An die Zeiten der Geborgenheit, der Liebe und der Sehnsucht. Künstler bergen diese Sehnsucht in ihren Werken. Wie oft hatte er versucht, diese Sehnsucht in Worte zu fassen. Worte, die vielleicht nicht jeder verstand. Worte, die an ein Versprechen erinnern sollten, das jeder Künstler, jede Künstlerin am Anfang gegeben hat: Niemals Ruhe zu geben. Weiter kämpfen gegen das Schwinden des Lichts. Denn ohne Kunst bliebe nichts als Dunkelheit.
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