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Teilnehmer einer Kundgebung gegen die Corona-Maßnahmen stehen vor dem Reichstag, ein Teilnehmer hält eine Reichsflagge.

© Fabian Sommer/picture alliance/dpa

Update

Neuer Jahresbericht vorgelegt: Verfassungsschutz zählt fast 10.000 Extremisten in Berlin

Die Pandemie hat den Extremismus nicht gebremst. Reichsbürger finden Anschluss, der linksradikale Verein „Rote Hilfe“ wächst, Salafisten orientieren sich neu.

Von Frank Jansen

Das Design ist neu und frisch, der Inhalt hingegen bleibt zwangsläufig hässlich. Der optisch modernisierte Jahresbericht 2020 des Berliner Verfassungsschutzes schildert die erheblichen Gefahren, die von den extremistischen Szenen in der Stadt ausgehen. Im Kern gehe es um das Verhalten von Extremisten in der Pandemie, sagte Innensenator Andreas Geisel am Dienstag bei der gemeinsam mit Behördenchef Michael Fischer erfolgten Vorstellung des Reports.

Gerade im Jahr der Coronakrise sind die Risiken für die innere Sicherheit teilweise noch erheblich gewachsen. Vor allem die Mischszene aus Reichsbürgern, Rechtsextremisten und Corona-Leugnern beunruhigt den Verfassungsschutz. Aber auch Salafisten und Linksextremisten bleiben unvermindert gefährlich. Die Gesamtzahl der Extremisten in der Stadt, von Neonazis über Autonome und Islamisten bis hin zu den Anhängern von Scientology, ist um 140 Personen auf 9660 gewachsen.

Große Sorgen bereiten die Reichsbürger. Sie bestreiten die staatliche Autorität der Bundesrepublik. Der Anschluss an die Corona-Proteste habe der Bewegung „einen erheblichen Schub“ gegeben, heißt es im Jahresbericht. Die Idee der Reichsbürger von einem vermeintlich illegitimen Staat sei auf breite Resonanz gestoßen und von vielen Corona-Protestierenden aufgegriffen worden. Es sei den Reichsbürgern gelungen, „ihre Ideologie besser zu verbreiten als je zuvor“. Davon werde die Szene auch nach dem Ende der Corona-Proteste profitieren können.

Reichsbürger und Rechtsextremisten hatten sich 2020 massiv an den Demonstrationen von Corona-Leugnern in Berlin beteiligt. Am Rande des großen Auflaufs am 29. August versuchten Reichsbürger, Rechtsextremisten und Querdenker, das Reichstagsgebäude zu stürmen. Die Polizei konnte die etwa 450 Angreifer nur mit Mühe aufhalten. Der Sturm brach aus einer Kundgebung der Reichsbürger-Gruppierung „Staatenlos.info Comedian e.V.“ am Gebäude hervor. 

Der Verfassungsschutz befürchtet, dass mit der weiteren Verbreitung der Reichsbürger-Ideologie „auch die Radikalisierung Einzelner fortschreitet“. Bereits in der Vergangenheit seien Reichsbürger mit schweren Gewalttaten aufgefallen. Das Potenzial dafür sei 2020 „nicht geringer geworden“, steht im Bericht.

Verfassungsschutz rechnet Berliner Reichsbürgerszene 670 Personen zu

Im Oktober 2016 hatte ein Reichsbürger im bayerischen Georgensmünd einen Polizisten erschossen. Zwei Monate zuvor hatte in Sachsen-Anhalt ein Reichsbürger auf Polizeibeamte geschossen und einen verletzt. Ende 2016 nahm der Verfassungsschutz bundesweit die Beobachtung der Szene auf.

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Der Verfassungsschutz rechnet der Berliner Reichsbürgerszene 670 Personen zu. Etwa 150 werden gleichzeitig als rechtsextremistisch eingestuft. Die Zahlen haben sich im Vergleich zu 2019 nicht geändert.

Das im März 2020 von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) verfügte Verbot der von Berlin aus agierenden, bewaffneten Gruppierung „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ hat die Szene offenbar nicht geschwächt. Ausführlich erläutert der Verfassungsschutz zudem in einem Sonderkapitel die weit verbreiteten „Verschwörungserzählungen“, die gerade in Zeiten der Pandemie einen enormen Aufschwung erleben. Diese Erzählungen seien „ein ganz erhebliches Mittel, um verfassungsfeindliche Ideologien zu transportieren“, sagte Behördenchef Fischer.

Mit Neonazis und Reichsbürgern. Coronaleugner demonstrieren im November 2020 in Berlin gegen das Infektionsschutzgesetz
Mit Neonazis und Reichsbürgern: Coronaleugner demonstrieren im November 2020 in Berlin gegen das Infektionsschutzgesetz.

© Felix Zahn/imago images/photothek

Die Coronakrise war auch für die rechtsextremistische Szene das herausragende Thema. Allerdings verhielten sich die Akteure widersprüchlich. Die NPD habe anfangs dem Berliner Senat vorgeworfen, zu wenig gegen das Virus zu unternehmen, nur um kurz darauf „in das Lager der Maßnahmenkritiker zu wechseln“, schreibt der Verfassungsschutz.

Ähnlich verhielten sich die Gruppierungen der „Neuen Rechten“. Das sind vor allem die AfD-Vereinigung „Der Flügel“, die „Identitäre Bewegung“ und das Netzwerk der dezidiert islamfeindlichen Rechtsextremisten wie die „Berliner Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Auch Gruppierungen der Neuen Rechten hätten zunächst eine verschärfte Eindämmung der Pandemie verlangt, seien dann aber „zu einer tragenden Säule der rechtsextremistischen Beeinflussung des Protestgeschehens gegen diese Maßnahmen“ geworden. Die Intention der Rechtsextremisten in der Pandemie sei klar, sagte Geisel: „Aus der Coronakrise sollte eine Krise der Demokratie werden“. Die Szene werte ihre Beteiligung an den Coronaprotesten „als großen Erfolg“.

Rechtsextremer AfD-"Flügel" existiert weiter

Der Verfassungsschutz rechnet der rechtsextremen Szene mehr als 1430 Personen zu. Das sind kaum mehr als 2019. Der Nachrichtendienst betont, die Strukturen der AfD-internen, rechtsextremistischen Vereinigung „Der Flügel“ bestünden trotz der im April 2020 verkündeten bundesweiten Auflösung fort. Kürzlich hat der Verfassungsschutz, wie berichtet, den gesamten Landesverband der AfD als extremistischen „Verdachtsfall“ eingestuft.

Das stärkste extremistische Spektrum in Berlin bleiben die Linksradikalen. Hier gab es eine Zunahme um 200 Personen auf 3600. Der Anstieg geht komplett auf das Konto des Vereins „Rote Hilfe“. Die Gruppierung hilft Linksextremisten, die mit Polizei und Justiz in Konflikt geraten sind. Ideologische Unterschiede, sonst in der Szene ein Grund für Streit, spielen bei der Roten Hilfe keine Rolle. Das macht sie im Spektrum populär. Die Mitgliederzahlen wachsen auch bundesweit seit Jahren.

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Als gewaltbereit gelten 980 Autonome und „Postautonome“. Letztere sind Linksextremisten, die sich nach außen offen für Bündnisse mit bürgerlichen Gruppierungen geben, zum Beispiel bei Protesten gegen Rechtsextremismus. Eine führende Rolle nimmt da die „Interventionistische Linke (IL)“ mit rund 300 Mitgliedern ein. Die IL wolle die demokratische Grundordnung durch ein kommunistisches System ablösen, sagte Geisel.

Zum postautonomen Spektrum zählt der Verfassungsschutz auch das Bündnis „Ende Gelände“ mit 40 Mitgliedern. Diese seien weitgehend identisch mit der Interventionistischen Linken, betonte der Senator. Ende Gelände tritt bei Klimaschutzprotesten auf. Gewaltanwendung werde billigend in Kauf genommen, heißt es im Bericht.

Hohe Bedeutung der "Rigaer 94" für die linksextreme Szene

Die Räumung des Hausprojekts „Liebig 34“ im Oktober habe die linksextremistische Szene geschwächt, sagt der Verfassungsschutz. Geisel verwies allerdings auch auf die vielen Straftaten nach der Räumung. Die gewaltbereite autonome Szene werde an dieser Strategie festhalten. Das weiter existierende autonome Wohnprojekt „Rigaer 94“ hat für die Szene unvermindert, so steht es im Bericht, „eine hohe symbolische und praktische Bedeutung“, unter anderem als Rückzugsort nach militanten Aktionen.

Polizeieinsatz bei der Räumung der "Liebig34" im vergangenen Oktober.
Polizeieinsatz bei der Räumung der "Liebig34" im vergangenen Oktober.

© Odd ANDERSEN / AFP

Die islamistische Szene stagniert bei einer Anhängerzahl von 2170 Personen, bleibt aber gefährlich bis hin zum Terror. Anschläge sind vor allem den gewaltorientierten Salafisten zuzutrauen. Der Verfassungsschutz spricht von 450 Personen, dem Salafistenmilieu insgesamt werden 1100 Personen zugerechnet. Das ist ein bisschen weniger als 2019. Damit sei die Zahl der Anhänger erstmals nach vielen Jahren des Wachstums leicht gesunken, betonte Geisel. Der Druck des Staates auf die Szene zeige Wirkung. In dem Kontext erwähnte Geisel auch das von ihm verfügte Verbot der salafistischen Gruppierung "Jamaatu Berlin". Die zwangsweise Auflösung erfolgte im Februar 2021.

Die salafistische Szene befinde sich im Strukturwandel, schotte sich weiter ab und agiere nach außen deutlich vorsichtiger, heißt es im Bericht. Gründe sind der Niedergang der Terrormiliz IS und staatliche Repression, vor allem die Vereinsverbote der vergangenen Jahre. Radikalisierung erfolge zunehmend in klandestin agierenden Zirkeln und im Internet, heißt es. Gleichzeitig wächst der Einfluss von Frauen, vor allem über eigene Chatgruppen.

Die Szene verlor zudem zwei Betstätten. Die As-Sahaba-Moschee in Wedding ist geschlossen, ebenso die Ibrahim-al-Khalil-Moschee in Tempelhof. Den Salafisten bleiben jetzt nur noch  die Al-Nur-Moschee, traditioneller Szenetreffpunkt in Neukölln, und das ebenfalls im Bezirk ansässige Furkan-Zentrum. Hier sind allerdings nur 30 bis 40 Prozent der Besucher dem Spektrum der Salafisten zuzurechnen.

Islamisten versuchen äußerliche Modernisierung

Geisel warnte zudem vor der wachsenden Anziehungskraft der islamistischen Gruppierung "Hizb-ut-Tahrir" (HuT). Sie unterliegt bundesweit seit 2003 einem Betätigungsverbot, bleibt aber aktiv. Die Organisation versuche, über ein modernes Erscheinungsbild in den sozialen Medien neue Anhänger zu rekrutieren, sagte der Senator. Als Beispiel nannte er das Netzwerk "Muslim interaktiv", das der HuT zuzurechnen ist. Im Oktober traten rund 70 Mitglieder von Muslim aktiv in einheitlichen Kapuzenpullovern am Brandenburger Tor auf.

Ein wenig schwächer geworden ist das Spektrum der ausländischen Extremisten jenseits des Islamismus. Die mit Abstand größte Vereinigung bleibt die kurdische Terrororganisation PKK (1100 Mitglieder). Weitere linksextremistische Gruppierungen, darunter die fanatisch israelfeindliche Palästinensertruppe PFLP, kommen zusammen auf 150 Leute. Stabil bleibt die rechtsextreme türkische Ülkücü-Bewegung, auch bekannt als „Graue Wölfe“. Der Verfassungsschutz spricht von 400 Mitgliedern in mehreren Vereinigungen.

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