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Vor der Polizeiabsperrung an der Weisestraße haben sich am Donnerstagabend einige hundert Sympathisanten des "Syndikats" versammelt.

© Julius Geiler

Update

„Syndikat“-Räumung in Neukölln: Erst aggressive Stimmung – dann Hochbetrieb bei den Spätis

Der Schillerkiez wehrt sich gegen die Räumung der Kneipe „Syndikat“. Bei Protesten werden 44 Menschen festgenommen und sechs Polizisten verletzt.

Neukölln, ein Kiez und die linke Szene sind in Aufruhr: Am Freitag, 7. August, um 9 Uhr wurde die Kiezkneipe „Syndikat“ polizeilich geräumt. Nach über 35 Jahren ist ein Treffpunkt verschwunden - weil die Eigentümer, eine britische Milliardärsfamilie, der Kneipe gekündigt und vor Gericht gewonnen haben.

Am Vormittag demonstrierten mehrere hundert Menschen in den Straßen rund um die Kneipe laut und zum Teil aggressiv gegen die Räumung. Vereinzelt kam es dabei auch zu Steinwürfen auf Polizisten und heftigen Rangeleien.

Die Polizei nahm nach ersten Zahlen bis zum frühen Morgen 44 Menschen vorläufig fest, wie ein Sprecher der Polizei sagte. Sechs Polizisten wurden demnach verletzt. Etwa 700 Polizisten sollten über den ganzen Tag verteilt für die Absperrungen im Einsatz sein.

Gegen 9.00 Uhr erschien der Gerichtsvollzieher in Begleitung zahlreicher Polizisten in dem abgesperrten Bereich vor der Kneipe in der Weisestraße. Die Eingangstür wurde von außen geöffnet, um dem Gerichtsvollzieher Zugang zu verschaffen. Üblicherweise lässt der Hauseigentümer in solchen Fällen dann ein neues Schloss einbauen und die Polizei bleibt noch eine Zeit lang vor dem Haus präsent, um eine erneute Besetzung zu verhindern.

[Wie lief die Räumung ab? Lesen Sie hier in unserem Newsblog nach, was am Vormittag geschah.]

Bereits am Abend vor der angekündigten Räumung glich der Schillerkiez einer Hochsicherheitszone. In dem Areal zwischen Hermannstraße und dem Tempelhofer Feld waren hunderte Polizisten im Einsatz. Die Weisestraße, in der sich das „Syndikat“ befindet, war mit Hamburger Gittern weiträumig abgesperrt.

Lediglich Anwohner, die ein Ausweisdokument vorlegen können, wurden durch die Polizeikontrollen gelassen. Selbst die Rucksäcke von Pressevertretern wurden teilweise durchsucht.

Bewohner der Straße demonstrierten mit zahlreichen Plakaten und Bannern ihren Unmut über die Räumung. Am Rande der Absperrungen waren mehrere Versammlungen entstanden. Aktivisten hatten hier zur langen „Nacht der Weisestraße“ aufgerufen.

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Bei der größten Demonstration an der Ecke von Weisestraße und Selchower Straße hatten sich 200 bis 400 Personen eingefunden. Neben diversen Redebeiträgen, kam es zwischendurch immer wieder zu Sprechchören, die sich gegen die Polizei richteten.

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Als eine Gruppe von Beamten durch die Kundgebung lief, heizte sich die Stimmung auf. Einzelne Teilnehmende der Kundgebung konfrontierten die durchquerende Gruppe an Einsatzkräften mit Parolen wie „Raus aus unser Demo“ und „Verpisst Euch“. Bis auf einige Schubser blieb es jedoch friedlich.

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Auch die Polizei schien sich auf eine lange Nacht eingestellt zu haben. Direkt in der Weisestraße hatten Beamte einen Flutlichtmasten installiert, der ab Einbruch der Dunkelheit die Kundgebung ausleuchtete.

Der Polizei geht ein Licht auf: Flutlicht in der Weisestraße.
Der Polizei geht ein Licht auf: Flutlicht in der Weisestraße.

© Julius Geiler

Rund um die Weisestraße blieb es bis in die späten Abendstunden des Donnerstags friedlich. Auch am Schwerpunkt des Demonstrationsgeschehens, an der Weisestraße Ecke Selchower Straße, kam es zunächst zu keinen weiteren Konfrontationen zwischen der Polizei und Protestierenden. Der gesamte Kiez war nach 23 Uhr trotz hunderten Demonstrierenden bemerkenswert ruhig.

Zwischenzeitlich abgebrannte Feuerwerkskörper bildeten die Ausnahme. Die Einsatzkräfte setzten ihr Sicherheitskonzept konsequent um. So wurde jeder Bewohner der Weisestraße von mindestens einem Beamten zur Haustür begleitet. Selbst auf dem Bürgersteig der Hermannstraße bildeten Polizisten eine menschliche Kette, um Personenkontrollen durchzuführen.

Klare Verhältnisse an der Ecke von Weisestraße und Herrfurthstraße am Donnerstagabend.
Klare Verhältnisse an der Ecke von Weisestraße und Herrfurthstraße am Donnerstagabend.

© Julius Geiler

In der Sperrzone selbst saßen Anwohner in Hauseingängen und auf Treppenstufen und beobachteten mit einer Flasche Wein das Geschehen. Hochkonjunktur hatten die Spätis im Kiez. Viele Demonstranten deckten sich hier mit alkoholischen Vorräten für eine vermutlich lange Nacht ein.

Kundgebung vor Kneipe: Widerspruch im Eilverfahren abgewiesen

Eigentlich sollte eine Kundgebung direkt vor der Kneipe stattfinden. Doch nach Angaben des Kneipenkollektivs wurde diese am Mittwoch von der Versammlungsbehörde ohne weitere Begründung auf eine naheliegende Kreuzung verlegt. Gegen die Verlegung hatte der Anmelder der Kundgebung laut eigenen Angaben einen Widerspruch per Eilverfahren eingelegt. Dieser Antrag wurde am Donnerstagabend abgewiesen.

[Lesen Sie mehr bei Tagesspiegel Plus: 35 Jahre existierte das „Syndikat“. Als die Kündigung eintraf, begann ein Kampf gegen Spekulanten und für das letzte bisschen Punk im Schillerkiez. Die Geschichte eines Untergangs.]

Laut Kneipenkollektiv begründete die Versammlungsbehörde dies wie folgt: „aufgrund der sehr emotionalen Thematik („zweites Wohnzimmer“) ist die Annahme begründet, dass nicht alle Versammlungsteilnehmer den Bereich vor der Weisestraße 56 [Anm.: der Adresse der Kneipe] bis kurz vor der angekündigten Zwangsräumung um 9 Uhr verlassen werden.“ Und weiter: „Alles was jetzt folgt hat (sic) Innensenator Geisel und die Polizei Berlin mit ihrer Eskalationsstrategie zu verantworten.“

Kollektiv kritisiert Polizei: „bewusste Verzögerungstaktik“

Das Kneipenkollektiv wirft der Polizei eine „bewusste Verzögerungstaktik“ vor, da Auflagen erst kurzfristig mitgeteilt worden seien – obwohl die Demonstration bereits am 17. Juli angemeldet worden sei. Auch ein Kooperationsgespräch mit der Bereitschaftspolizei sei erst am Mittwoch angeboten worden.

Auch die Neuköllner Grüne Jugend hat aus Protest gegen die Verlegung kurzfristig eine Kundgebung vor der Kneipe ab Donnerstag durchgehend bis zur Räumung angemeldet.

Auch für die Räumung selbst wird zu breiten Protesten mobilisiert, ab 17 Uhr am Freitag ist eine Demonstration vom Herrfurthplatz zur Werbellinstraße angekündigt.

Bereits am Mittwoch begann die Polizei laut Beobachtern, den Umkreis der Kneipe weiträumig abzusperren. Die Polizei selbst bestätigte die Maßnahme zunächst auf Anfrage nicht. Auch am Donnerstag waren dann wieder Polizeibeamte vor Ort. Es werde eine „Nahbeobachtung des Kiezes“ geben, sagte eine Sprecherin.

Grünen-Politikerin zur Polizei: "Damit wird Eskalation nicht verhindert"

Grüne und Linke kritisierten das Vorgehen der Einsatzkräfte. „Ich halte das für falsch und denke damit wird eine Eskalation nicht verhindert, im Gegenteil“, twitterte etwa die Grünen-Abgeordnete Katrin Schmidberger.

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Werner Graf, Landesvorsitzender der Grünen, erklärte, es sei Aufgabe der Politik, Orte wie das Syndikat in Berlin zu schützen. Er forderte die Senatsverwaltung auf, die Kneipe und andere linke, räumungsbedrohte Projekte wie das selbsterklärte „anarcha-queer-feministische“ Hausprojekt „Liebig 34“ in Friedrichshain bei der Suche nach Ersatzräumlichkeiten zu unterstützen.

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Ähnlich äußerte sich auch der Linke-Innenexperte Niklas Schrader. „Sperrzone, Ansprache bei Gewerbetreibenden, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in letzter Minute - das Vorgehen der Polizei rund um das Syndikat trägt nicht zur Deeskalation bei, sondern verschärft die Konfrontation im Kiez“, erklärte er.

Laut Polizei sind am Freitag insgesamt drei Kundgebungen im Umkreis der Kneipe mit jeweils rund 100 bis 200 Personen angemeldet. Sollte die Räumung tatsächlich stattfinden, wovon man wohl ausgehen kann, wollen Linksautonome am Freitag ab 21 Uhr auch vor anderen räumungsbedrohten linken Projekten dezentral und spontan protestieren. Genaue Orte sollen erst kurzfristig bekannt gegeben werden.

Linksautonome fürchten Verlust ihrer Rückzugsorte

Die linke und linksautonome Szene bereitet sich seit längerem auf eine größere Protestwelle vor. Anlass sind diverse Räumungsurteile, die neben dem Syndikat auch gegen das Hausprojekt „Liebig 34“ und das Jugendzentrum „Potse“ in Schöneberg ergangen. „Ich habe das Gefühl, dass da gerade die Sorge groß und auch berechtigt ist, dass bestimmte Freiräume, in denen linksalternatives Leben stattfindet, nach und nach verloren gehen“, sagte etwa der Linken-Politiker Schrader kürzlich im Interview mit dem Tagesspiegel.

Zuletzt war es vor allem rund um die Rigaer Straße und Liebigstraße im Friedrichshainer Nordkiez zu Ausschreitungen gekommen.

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Am vergangenen Samstag demonstrierten bereits rund 2500 Menschen gegen die angekündigte Räumung unter anderem des „Syndikats“. Die Polizei löste die Demo nach weniger als einer Stunde auf, es kam zu chaotischen Szenen zwischen Demonstranten und Polizisten. Zuvor sollen Autonome ein Neubauprojekt und unbehelmte Verkehrspolizisten mit Steinen beworfen haben. Mehrere Menschen – darunter Polizisten und Demoteilnehmer – wurden verletzt. Neben dem Neubauprojekt, in dem hochpreisige Luxuswohnungen entstehen sollen, wurde unter anderem auch die Geschäftsstelle der Neuköllner SPD in der Hermannstraße angegriffen.

„Der Einsatz für eine bezahlbare Stadt kann nur gemeinsam auf Augenhöhe stattfinden. Übergriffe und Sachbeschädigungen, wie Angriffe auf Parteibüros, gehören nicht dazu. Das schädigt die politischen Ziele. Gewalt kann und darf nie Mittel der politischen Auseinandersetzung in einem demokratischen System sein. Es ist klar, dass wir uns natürlich weiter für eine bezahlbare Stadt einsetzen und uns nicht einschüchtern lassen“, erklärte anschließend Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD). 

Bei der Demonstration am 1. August sammelten sich bereits rund 2500 Menschen, um gegen die Räumung zu protestieren.
Bei der Demonstration am 1. August sammelten sich bereits rund 2500 Menschen, um gegen die Räumung zu protestieren.

© Fabian Sommer/dpa

Dem „Syndikat“ war im Sommer 2018 nach über 30 Jahren unerwartet der Mietvertrag nicht verlängert worden. Zum Jahresende 2018 verweigerte das Kneipenkollektiv die Schlüsselübergabe an den Eigentümer - eine Holding der britischen Milliardärsfamilie Peers. Deren Unternehmen „Pears Global Real Estate“ gehören mindestens 3000 Wohnungen in Berlin. Eine Recherche von Tagesspiegel und Correctiv förderte diese und andere Verflechtungen auf dem Berliner Immobilienmarkt zutage.

Mehrere Gesprächsversuche mit den Eigentümern, auch von Seiten der Politik, scheiterten. Im November erklärte eine Richterin die Räumung für zulässig. Ein Räumungstermin im April wurde coronabedingt verschoben.

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