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"Mehr Abstand" lautete die Devise schon nach dem Lockdown im Frühsommer (Archivbild).

© Rolf Vennenbernd/dpa

Modellversuch zu halbierten Klassen: Wie ein Neuköllner Gymnasium in der Coronakrise hybriden Unterricht organisiert

Eigentlich wollte die Berliner Senatsverwaltung für Bildung keine Abweichung vom vollen Präsenzbetrieb dulden. Das Ernst-Abbe-Gymnasium schaffte es trotzdem.

Am Anfang war die Vollschließung: Vor den Herbstferien hatte das Neuköllner Ernst-Abbe-Gymnasium derart viele Infektionsfälle, dass nichts mehr ging. So etwas prägt: Man wird vorsichtiger – und denkt präventiver. So landete die Schule bei einem Modellversuch, der gerade in die entscheidende zweite Woche eingetreten ist: Halbierte Lerngruppen. Wer vergangene Woche in der Schule war, lernt diese Woche zu Hause und umgekehrt. So sollen Ansteckungen vermieden werden.

Was einfach klingt, birgt Risiken, die sowohl menschlicher als auch technischer Natur sind. Die technischen sind am Ernst-Abbe-Gymnasium relativ gut im Griff, weil die Schule die Schulcloud des Hasso-Plattner-Instituts nutzen kann: Über die Cloud werden die Informationen und Arbeitsaufträge ausgetauscht, die Schüler stellen dort auch ihre erledigten Aufgaben hinein.

Schwieriger zu handhaben sind mitunter die „menschlichen“ Risiken. Dazu zählt etwa, dass Schüler aus der Gruppe, die zu Hause lernen soll, morgens nicht den Weg aus dem Bett finden oder mittags lieber „in der Gropius-Passage abhängen“, wie es Schulleiter Tilmann Kötterheinrich-Wedekind beschreibt.

Damit das nicht passiert, gibt es unterschiedliche Sicherungssysteme. Dazu gehört, dass die Schüler die Aufgaben in einem bestimmten Zeitfenster erledigen sollen, was über die Cloud kontrolliert werden kann. Zudem sind die Lehrer gehalten, regelmäßig ein Feedback zu geben und selbst auch einzufordern.

„Unsere Schüler brauchen eine feste Tagesstruktur“, erläutert der Schulleiter. „Wir haben deshalb auch online einen festen Stundenplan, damit sie wissen, was sie machen müssen“. Das bedeutet: Wer seine Aufgaben nicht bis zu dem festgelegten Zeitpunkt erledigt, fällt auf. „Wenn die Lehrer merken, dass sie Schüler nicht mehr erreichen, holen wir sie in die Schule“, nennt Kötterheinrich-Wedekind den Ausweg für solche Fälle. Auch das ist möglich, denn es gibt einen Computerraum, der zurzeit extra als eine Art Ersatzunterrichtsraum genutzt wird.

Eine räumliche Lösung für Schüler, die zu Hause nicht lernen können

Dieser Raum hat allerdings noch eine weitere Funktion. Eigentlich ist er für die Schüler gedacht, die nicht zu Hause lernen können, weil sie kein Endgerät haben und/oder keinen ruhigen Raum zum Lernen. Auch an diese Gruppe musste die Schule denken, weil sie die Probleme der Familien kennt: Vier Fünftel leben von Sozialtransfers, die Wohnungen sind entsprechend klein, oftmals teilen sich die Schüler ein Zimmer mit mehreren Geschwistern.

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Zwar werden 9500 kostenlose Laptops an bedürftige Schüler verteilt, aber da in Berlin zehntausende Schüler als bedürftig gelten, ist es unmöglich, alle ad hoc mit Geräten zu versorgen. Somit treffen die Schüler, die zwar Geräte haben, aber dennoch nicht zuverlässig mitarbeiten, im PC-Raum auf jene Schüler, die zu Hause keine Ruhe oder keine Geräte zum Lernen haben.

Die Grünen fordern mehr Offenheit für solche Versuche

Das Konzept, dass das Abbe-Gymnasium entwickelt hat, ist ziemlich ausgefeilt. Das allein hätte aber nicht ausgereicht, um die Erlaubnis für den Modellversuch zu bekommen. So viel steht fest, denn andere Schulen, die ebenfalls sehr ausgefeilte Konzepte hatten, bekamen keine Zustimmung zum hybriden Lernen, weil Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) nach den Erfahrungen des ersten Lockdown befürchtet, dass die Schüler abermals verloren gehen.

Der Konflikt zieht sich auch durch die Koalition: Die grüne Bildungsexpertin Stefanie Remlinger fordert mehr Offenheit für solche Versuche. „Die Senatorin ist aus meiner Sicht voreilig der Meinung, dass hybrides Lernen nur schaden kann“, sagte Remlinger im Tagesspiegel-Interview. „Warum hören wir nicht genauer hin, wenn einzelne Schulen sagen, sie haben erstaunlich gute Erfahrungen gemacht?“

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Warum also wurde es dem Neuköllner Gymnasium erlaubt? Kötterheinrich-Wedekind vermutet, dass das auch mit der hohen Infektionsrate in Nord-Neukölln zu tun hat und damit, dass die Schule bereits eine Komplettschließung hinter sich hat. Der Schulleiter bedauert, dass nicht viel mehr Schulen die Erfahrungen sammeln können, die seine Schule gerade macht, um gewappnet zu sein, falls sich die Bundespolitik in Kürze auf eine generelle Halbierung der Lerngruppen – zumindest in Oberschulen – einigt.

„Gute Politik wäre gewesen, es Schulen zu erlauben, die es können“, sagt Kötterheinrich-Wedekind. Ab Mittwoch werden die ersten Erfahrungen evaluiert. Alle sind gespannt, was Schüler und Lehrer zu berichten haben.

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