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Lemberger

© privat

Reise in Vergangenheit: Der Gast, der durchs Fenster kam

Ruth Lemberger aus Israel wollte nur kurz ihre alte Schule wiedersehen. Jetzt gibt sie Geschichtsstunden.

Solch eine ältere Dame hatten die Kinder noch nicht erlebt. Ruth Lemberger winkte ihnen von der Straße aus zu und fragte, ob sie willkommen sei. Dann stieg sie durchs geöffnete Fenster in den Töpferraum der Steglitzer Dunant-Schule ein, wagte lächelnd einen kleinen Sprung – und stand mitten unter den Viertklässlern. Die Fenster sind zur Straße hin fast ebenerdig. Doch wer hätte so etwas von einer 83-jährigen Frau erwartet? Noch dazu von einer, die allen Schülern unbekannt war?

Zum Staunen blieb keine Zeit. Der Überraschungsgast aus Israel stellte sich gleich vor: „Guten Tag, in eurem Alter bin ich hier zum Unterricht gegangen, dann musste ich als Jüdin mit den Eltern nach Haifa fliehen. Jetzt will ich meine alte Schule mal wieder besuchen.“

Seitdem sind zweieinhalb Jahre vergangen, und eine enge Freundschaft ist entstanden. Ruth Lemberger reist regelmäßig nach Berlin, um als Zeitzeugin den Geschichtsunterricht der vierten bis sechsten Klassen zu bereichern. Seit Anfang dieses Jahres ist das in einer reich illustrierten Broschüre dokumentiert mit dem Titel: „Der Gast, der durch das Fenster kam.“ Schüler, Eltern und Lehrer der Klasse 4a der Grundschule an der Gritznerstraße haben sie gestaltet und wurden dafür jetzt ausgezeichnet. Beim Wettbewerb „Israel und ich“ des Landesinstituts für Schule und Medien erhielten sie den Hauptpreis. Auch Michael Blumenthal, der Direktor des Jüdischen Museums Berlin, war beeindruckt. „Das ist ein wunderbarer Beitrag zu einer toleranteren Gesellschaft“, schrieb er den Kindern.

Im Herbst 2006 hatte Ruth Lemberger bei einem Berlin-Besuch plötzlich die Idee, nach 72 Jahren ihre alte Schule aufzusuchen. Zuerst kehrte sie zu ihrem Elternhaus an der Kreuznacher Straße 9 zurück, wo sie bis zu ihrem elften Lebensjahr, bis zur Flucht vor den Nazis gewohnt hatte. Von dort folgte sie ihrem einstigen Schulweg, bis sie vor dem gründerzeitlichen, heute denkmalgeschützten Unterrichtsgebäude stand. Es war Nachmittag, Kinder töpferten im Parterre, sie klopfte an die Scheibe – so begann der Geschichtsunterricht der besonderen Art.

Ruth Lemberger erzählte den Kindern, wie eine Lehrerin 1933 im Unterricht auf die Juden schimpfte und sie als einziges jüdisches Kind ihrer Klasse in Tränen ausbrach. Wie ihre beste Freundin Herma plötzlich nicht mehr mit ihr redete, weil es deren Vater verboten hatte. Wie sie mit dem Roller entsetzt hinter SA-Schlägern herfuhr, die jüdische Geschäfte demolierten. Und wie sie im Mai 1934 mit ihrer Familie als Touristen getarnt über Triest nach Palästina floh. Um sechs Uhr früh ging es damals los, Ruth ahnte nicht, dass sie Berlin für immer verlassen sollte. Die Eltern hatten es ihr zur Sicherheit verheimlicht.

Niemand flüstert, kein Papier raschelt im Klassenraum, als die Zeitzeugin mit den schneeweißen Haaren erzählt. „Ich hab’ zum ersten Male so richtig begriffen, wie schrecklich das damals für die Menschen war“, sagt die elfjährige Mathilda Müller-Schlecht hinterher. Immerhin war diese „niedliche, lebendige Oma“, die vor ihnen am Lehrerpult saß, genau in ihrem Alter gewesen, als sie ins Exil gehen musste. Wenig später erfuhr sie damals, dass nahezu die gesamte Familie ihrer Mutter von SS-Männern in einem polnischen Getto ermordet worden war.

In Haifa baute sich die junge Frau ein neues Leben auf. Sie heiratete, bekam zwei Jungen und arbeitetete als kaufmännische Angestellte für eine Reederei. In deren Auftrag reiste sie mehrfach nach Hamburg, weshalb Ruth Lemberger schon seit den 50er Jahren hin und wieder Freunde in Berlin besuchen konnte. Heute ist sie Witwe und lebt immer noch in Haifa. Sie hat fünf Enkelkinder – und in Berlin mittlerweile eine große Schar junger Brieffreunde. Kinder der Dunant-Schule schreiben ihr, sie berichtet vom Alltag in Israel, über ihre Sorgen wegen des Konfliktes mit den Palästinensern und ihre Sehnsucht nach einem dauerhaften Frieden. Demnächst reist Ruth Lemberger wieder nach Steglitz. Sie ist im Unterricht fest eingeplant. „Das ist mein Beitrag“, sagt sie, „zu einer toleranteren Gesellschaft“.

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