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© dpa

Neues Angebot für die Berliner Schulen: Zeitzeugen erinnern an die Folgen der Zwangskollektivierung

Die Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum kämpft seit 25 Jahren für die Opfer von Bodenreform und Enteignung in der DDR. Mit Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat sie Unterrichtsmaterial erstellt.

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Der alte Mann zögerte lange mit seiner Antwort. Für seinen Enkel war es nur eine interessante Frage. Für den Großvater war sie seelischer Sprengsatz. Sie konfrontierte ihn in seinem Dorf bei Perleberg mit der über Jahre verdrängten Vergangenheit.

„Warst Du auch Opfer der Zwangsenteignung?“, lautete die Frage des Gymnasiasten. „Ja“, murmelte der Senior schließlich. „Unser Bauernhof wurde nach dem Krieg in der Sowjetisch Besetzen Zone zwangsenteignet. Es war ganz furchtbar.“ Aus der Sowjetisch Besetzten Zone wurde 1949 offiziell die DDR.

Jahrzehntelang hatte der Großvater über dieses Schicksal geschwiegen, um inneren Frieden zu finden. Jetzt, im Frühjahr 2024, riss sein Enkel diese Schutzmauer ein. Der Jugendliche ahnte nicht, was er mit seiner Frage auslösen würde. Er hatte sie im Frühjahr 2024 aus dem Geschichtsunterricht mitgenommen.

Ein 92-jähriger Zeitzeuge hatte den Enkel wie viele weitere Schüler auf diese Frage gebracht. In vielen Haushalten wurde sie jetzt gestellt. Manfred Graf von Schwerin, der Zeitzeuge, hatte die Schüler aufgeklärt, welches Leid, welche Schmerzen hinter dem Begriff „Zwangsenteignung“ stecken. Er hat gesehen, wie erschrocken die Schüler im Gymnasium Perleberg reagierten.

Die Familie von Manfred Graf von Schwerin verlor durch die Bodenreform allen Besitz in Ziethen nach Usedom. Er lebt heute in Plänitz (Achivfoto).

© Susanne Vieth-Entus

Noch im Januar 2025 ist er berührt, wenn er davon erzählt und darüber spricht, wie ihm die Reaktionen der Großeltern geschildert wurden. Er kann diese Gefühle so gut nachvollziehen. Manfred Graf von Schwerin ist ein Betroffener.

Zwangsenteignung. Ein Thema, von dem die meisten Schüler von heute nie gehört haben. Der sowjetische Diktator Stalin hatte nach Kriegsende angeordnet, dass in der „Sowjetisch Besetzten Zone“ alle Bauern, die Höfe mit mehr als 100 Hektar besaßen, entschädigungslos enteignet werden sollten. Die sogenannten Junker, also Bauern mit Höfen ab dieser Größe, galten offiziell generell als Stützen des Nazi-Regimes.

Perfide Lüge

Eine perfide Lüge. Alle enteigneten Agrarflächen kamen in einen Bodenfonds, aus dem 2,2 Millionen Hektar an 560.000 Personen verteilt wurden. Viele hatten wenig bis keine Ahnung von effizienter Landwirtschaft. Die restlichen 1,1 Millionen Hektar gingen in staatlichen Besitz über. Offiziell wurde die brutale Aktion „Bodenreform“ genannt.

Agitation in Zeiten der Zwangskollektivierung: Die Freiwilligkeit wurde meist nur vorgetäuscht wie hier in Neuhardenberg, das von 1945 bis 1990 „Marxwalde“ hieß.

© picture alliance / akg-images

Später, in der DDR, wurden alle Bauern, also auch diejenigen, an die 1945 das Land der „Junker“ verteilt worden war, mittels Repressionen in sogenannte Landwirtschaftliche Produktionsgesellschaften (LPG) überführt. Dieser achtjährige Prozess wird auch als „Zwangskollektivierung“ bezeichnet.

Das nächste Unrecht

Das zweite Ziel des inzwischen 93-Jährigen Schwerin: Dieses Unrecht dürfe nie vergessen werden. Das ist die Triebfeder für Schwerins Engagement an den Schulen. Auch das nächste Unrecht, eng verbunden mit den Opfern, soll den Schüler bewusst gemacht werden.

Denn nach der Wende von 1989, nach dem Untergang der DDR, wurden diejenigen, die im Zuge der Bodenreform enteignet worden waren, nicht entschädigt. Dies, behauptete der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), sei die Bedingung der Sowjetunion gewesen, damit sie der Wiedervereinigung zustimme. Absurd, erwiderte später der damalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow; andere sahen im Vorgehen Kohls einen „Verfassungsbruch“.

Anarchische Zustände

Erschwerend kam hinzu, dass es den ehemaligen DDR-Agrarbossen dank „Cliquen und Seilschaften“ gelang, ihre Macht und ein Großteil des geraubten Landes zu behalten, wie die Brandenburgische Enquetekommission 2012 bilanzierte. Sie sprach von „anarchischen Zuständen“, die die enteigneten Bauern nach der Wende ein zweites Mal um ihr Eigentum brachten.

Bis heute kämpft Graf Schwerin gegen das von ihm und Tausenden anderen erlittene Unrecht mittels der von ihm im Jahr 2001 gegründeten Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum (ARE).

An fünf Brandenburger Gymnasien hat der Graf über die Zwangsenteignung gesprochen. Außer ihm referieren fast ein Dutzend anderer betroffener Zeitzeugen im Unterricht. „Wir würden darüber auch gerne in Berliner Schulen aufklären“, sagt Schwerin.

Peter Stolz unterstützt diesen Plan ausdrücklich. 21 Jahre lang, bis 2023, hatte Stolz am renommierten Heinrich-Hertz-Gymnasium in Friedrichshain Geschichte unterrichtet. Elf Jahre lang leitete er den Berliner Landesverband der Geschichtslehrerinnen und -lehrer.

Es geht auch darum, Eigentum vor dem Staat zu schützen

Peter Stolz, früherer Leiter des Landesverbands der Geschichtslehrerinnen und -lehrer

„Zwangsenteignung“ – für Stolz ein ideales Gebiet, um Schüler zu einem gesellschaftlichen Kernthema zu führen: Demokratie und ihre Regeln. Im Unterricht, sagt Stolz, habe er gesehen, wie groß die Defizite im Verständnis von Demokratie seien. Vielen Schülern fehlte das Verständnis für die Funktion von Parteien. Genauso diffus sei die Vorstellung, was Eigentum in einer demokratischen Gesellschaft bedeutet und wie es zu bewerten ist.

Klar sei, dass man einen Teil seines Eigentums abgeben müsse, damit der Staat Straßen, Schulen, Krankenhäuser und anderes bauen kann. Hilfe für Bedürftige sei auch zu finanzieren. „Aber wie viel muss man abgegeben, damit es noch vertretbar ist? Was passiert mit dem abgegebenen Geld? Welche Sachen sind normal in einem Sozialstaat? Es geht auch darum, Eigentum vor dem Staat zu schützen“, sagt Stolz. Für solche Fragen will er die Schüler sensibilisieren.

Griffige Beispiele

Und der Schutz vor einer brutalen Zwangsenteignung sei für eine demokratische Gesellschaft essentiell. „Bei den Nazis galt die Parole: Du bist nichts, das Volk ist alles“, sagt Stolz. Die Sowjets führten diese Politik fort. „Das Individuum wurde in der DDR plattgemacht.“

Mit demokratietheoretischen Sätzen erreiche man die Schüler nicht so einfach. Sie reagierten eher auf griffige Beispiele. „Und das Thema Zwangsenteignung“, sagt Stolz, „kann man sehr anschaulich darstellen.“

Er hat es eindrucksvoll gezeigt: In Kreuzberg zum Beispiel, wo viele muslimische Schüler Eltern oder Großeltern haben, die kleine Geschäfte betreiben, Obststände, Friseurläden, Autowerkstätten. Stolz arbeitete, ergänzend, zu seinem Gymnasium in Friedrichshain, als Fachseminarleiter für Geschichte und Politik punktuell auch anderen Schulen.

„Stellt Euch vor“, sagte er dann, „Eure Eltern werden gezwungen, ihre Werkstatt oder ihren Laden in ein Kollektiv zu überführen. Sie sind also nicht mehr alleinige Besitzer. Und in Kreuzberg gibt dann nur noch zwei Firmen, bei denen muss Euer Vater arbeiten. Ihm gehört nichts mehr, er muss beim Staat arbeiten, er hat gar keine andere Wahl.“ Ein klares Szenario, verständlich für jeden.

Zeitzeugen wirken

Im Detail beschrieb Stolz damit die Zwangsenteignungen nach LPG-Muster, nicht passgenau die sogenannte Bodenreform. Die Grundstruktur ist gleich. „Aber mir geht es um die Anschaulichkeit, diese Beispiele können die Schüler gut verstehen“, sagt der Pädagoge.

Noch überzeugender wirken die Geschichten, wenn Betroffene, also Zeitzeugen, erzählen. Deshalb möchte Stolz gerne Menschen wie Schwerin in Unterrichtsräumen von Berlin haben.

Der Graf hat bisher bei jedem Schulbesuch gesehen, wie seine Erzählungen den Zuhörern unter die Haut gehen. Zweimal war er im Gymnasium von Perleberg und Neuruppin. Bei den jeweils ersten Besuchen hatten insgesamt zehn Schüler erklärt, ihre Großeltern seien Betroffene. Beim zweiten Mal, nachdem viele Schüler zu Hause nachgefragt hatten, sagten jeweils mehr als 20, dass in ihrer Familie Opfer von Zwangsenteignung leben.

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