zum Hauptinhalt
Das Kammergericht in Berlin-Schöneberg.

© imago images/Joko

Update

Spätfolgen durch Polizeigewalt?: Berliner Gericht vertagt Entscheidung über Entschädigung nach Übergriff vor 26 Jahren

Im April 1995 wurde Iris K. auf einer Demonstration von Polizisten schwer verletzt. Bis heute streitet sie mit dem Land Berlin über Entschädigungszahlungen.

Spätfolgen von Polizeigewalt sind schwer zu beweisen. Am Freitag hat das Berliner Kammergericht über die Folgen eines Übergriffes, der fast 26 Jahre zurückliegt verhandelt. Iris K. wurde 1995 bei einer Demonstration in Berlin-Kreuzberg von Polizisten schwer verletzt. Eine Haftung für die daraus möglicherweise entstandenen langfristigen körperlichen Schäden lehnt das Land Berlin bis heute ab.

Der 20. April 1995 war ein Tag, der das Leben von Iris K. nachhaltig beeinflusste. Die damals 28-jährige Studentin nahm an der Demonstration „Wider den rassistischen Terror“ teil – eine Gegenbewegung zu Neonazi-Aufzügen, die zum Geburtstag von Adolf Hitler durch die Stadt zogen und vor allem auf „Leute mit migrantischem Hintergrund losgingen“, sagt Iris K.

Sie weiß noch, dass es ein sehr sonniger Tag war und auf der Demo ziemlich gute Laune. Die Demo sei eigentlich schon vorbei gewesen, als die Polizei plötzlich auf die Demonstrant:innen losgegangen sei.

Was dann passierte, wird in einem dem Tagesspiegel vorliegenden Schreiben der Senatsverwaltung für Finanzen von 2010 genau beschrieben: Ein Polizist habe K. „von hinten in den Würgegriff genommen“ und „auf die Halswirbelsäule sowie den Rippen- und Nierenbereich geschlagen“.

Ein anderer Polizist habe währenddessen „von vorn an ihr gezogen“. So sei eine Gegenbewegung entstanden. „Die Gewaltanwendungen führten insb. zu einem Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule“, erkennt der Senat zu diesem Zeitpunkt noch an.

Obwohl die verantwortlichen Polizisten nie ermittelt werden konnten, wurde 1998 auf Anraten des Landgerichts Berlin ein Vergleich geschlossen. Darin wurde Iris K. ein Schmerzensgeld von 30.000 DM zugesprochen und das Land Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltung für Finanzen, erklärte sich bereit, „für eventuell entstehende zukünftige materielle und immaterielle Schäden der Klägerin aus dem Ereignis am 20. April 1995 einzustehen“.

Forschungsprojekt untersuchte rechtswidrige Polizeigewalt

Dieser Vergleich, bei dem das Land die Haftung übernahm, macht aus dem Verfahren laut K.s Rechtsanwalt, Helmuth Meyer-Dulheuer, ein „sehr ungewöhnliches“. In der Regel komme es bei Körperverletzungen auf Demonstrationen nicht zu Schadenersatzklagen –, weil Täter nicht ermittelt, Beweise nicht erbracht oder die Forderungen als erfolglos angesehen werden.

[290.000 Leute, 1 Newsletter: Die Autorin dieses Textes, Corinna von Bodisco, schreibt den Tagesspiegel-Newsletter für Friedrichshain-Kreuzberg. Den gibt's hier: leute.tagesspiegel.de]

Der Straftatbestand „Körperverletzung im Amt“ wurde in den 1990er Jahren noch nicht separat in der Polizeistatistik erfasst. Aus den Statistiken geht seit 2005 ein leichter Rückgang hervor, 2019 wurden 484 Beamt:innen angezeigt. Ob die Gewalt allerdings tatsächlich abgenommen hat, ist unklar.

Ein Forschungsprojekt zu rechtswidriger Polizeigewalt der Bochumer Ruhr-Universität kommt zu dem Schluss, dass es in vielen Fällen gar nicht erst zu Strafverfahren kommt. Von November 2018 bis Januar 2019 wurden über 3300 Personen befragt: In 86 Prozent der berichteten Fälle wurde kein Strafverfahren durchgeführt, obwohl über 70 Prozent von körperlichen Verletzungen berichteten.

Die Studie ist nicht repräsentativ, sie bilde die Sicht der Betroffenen ab. Unter Bezugnahme auf die Justizstatistik heißt es darin, dass Strafverfahren gegen Polizist:innen wegen rechtswidriger Gewaltausübung eine „auffallend hohe Einstellungs- sowie eine besonders niedrige Anklagequote“ aufweisen.

Der Entschädigungsstreit ging erst richtig los, als sich der Zustand von Iris K. verschlechterte

Trotz des erfolgreichen Vergleichs im Fall Iris K. ging der Streit um Entschädigung erst richtig los, als sich ihr Gesundheitszustand ab 2009 laut eigener Aussage verschlechterte. „Sie konnte nicht mehr lang genug in einer Position sitzen und keine Arbeit mehr ausführen“, sagt ihr Rechtsanwalt. Seitdem bestreitet das Land Berlin, dass die Spätfolgen vom Polizeieinsatz verursacht wurden.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Schon in erster Instanz legte Iris K. medizinische Gutachten vor, die den Zusammenhang zwischen Bandscheibenvorfall und Polizeigewalt nachweisen sollen. Der amtsärztliche Dienst und ein vom Gericht beauftragter Gutachter bestritten das. Das Landgericht wies die Klage ab.

Die zweite Instanz machte nun bereits zu Anfang der Verhandlung am Freitag deutlich, dass es die Rechtsauffassung der ersten Instanz nicht teilt. Es müsse ein weiteres medizinisches Gutachten eingeholt werden, um den Zusammenhang zwischen den körperlichen Schäden und dem Ereignis von 1995 zu beweisen.

Kammergericht empfiehlt Vergleich

Trotzdem legte das Kammergericht den Parteien zwecks Vermeidung weiterer kostspieliger Gutachten einen Vergleich zum Abschluss des Ver-fahrens nahe. Es wies darauf hin, dass die Klägerin die Beweislast für ihre Behauptungen trage.

Das bedeutet, dass sie den Prozess möglicherweise verlieren könnte und keine weitere Entschädigung erhielte. Die Parteien konnten sich jedoch im Vergleichsgespräch nicht einigen. Die Vorstellungen über die Höhe einer Entschädigung lagen zu weit auseinander: während der Rechtsvertreter des Landes mit einem Vorschlag von insgesamt 15.000 Euro einstieg, lehnte K.s Anwalt dies als „nicht diskussionswürdig“ ab.

Der entstandene Erwerbsschaden könne bei über einer Million Euro liegen. Er schlug eine Rente von 2000 Euro monatlich bis zum Eintritt von Iris K. ins Rentenalter vor. Der Rechtsvertreter des Landes Berlin, Ulrich Franz, fühlte sich davon „überfahren“. Obwohl sich die Senatsfinanzverwaltung für einen Vergleich offen zeige, seien die Vorstellungen der Klägerin „nicht vermittelbar“. Er vermutet, dass „die Klägerin mit Null ausgeht“, sagte er dem Tagesspiegel. 

Empört vom Vergleichsvorschlag der Gegenseite zeigte sich die beim Prozess anwesende Klägerin Iris K. „Ich habe bis an mein Lebensende einen Erwerbsschaden“, sagte sie – mit einem einmaligen Betrag sei das nicht abgeglichen.  Seit fünf Jahren ist Iris K. verrentet: Sie lebe von Sozialhilfe, von der ihre Rente abgezogen wird.

Übrig bliebe ein Hartz-IV-Satz. Schmerzen habe sie nach wie vor ununterbrochen, je nach Stärke nehme sie Medikamente, sagt sie. Ob das neue Gerichtsgutachten, – das nach Auffassung der Klägerin aus dem Fachbereich Neurochirurgie eingeholt werden sollte – den nötigen Beweis für eine höhere Entschädigungszahlung erbringt, gilt es abzuwarten. Die weitere Entscheidung des Kammergerichts steht aus..

Zur Startseite