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Kriegsfotos des Frontsoldaten Otto Reipert - doch auch nicht-militaristische Erinnerungsstücke an den Ersten Weltkrieg werden in der Staatsbibliothek digitalisiert.

© Christoph Stollowsky

Europeana 1914-1918: Staatsbibliothek digitalisiert private Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg

Liebesbriefe, Fotos oder Tagebücher: Berliner können ihre Erinnerungsstücke an den Ersten Weltkrieg in der Staatsbibliothek vorbeibringen. Dort werden diese digitalisiert - und ein Goldschatz an privaten Dokumenten im Internet zugänglich.

Die rosafarbenen Bändchen sind bleich geworden, das Papier ist ergraut. Ein Stapel liebevoll zusammengebundener Briefumschläge liegt vor Gabriele Krüger auf dem Tisch in der Staatsbibliothek. Jetzt öffnet sie die Schleife, die alles beisammenhält, zieht ein Schreiben aus dem obersten Kuvert. „Mein gutes, herziges, innig geliebtes Schätzchen“, schreibt da am 13. April 1919 der Berliner Landser Karl Hermann Förster aus dem Kriegsgefangenenlager in Frankreich an seine Frau Frieda. Fünf Jahre lang wurde er dort festgehalten, fast vom Beginn des Ersten Weltkrieges an bis 1920. Musste im Steinbruch in den Ardennen arbeiten. „Es war sein Glück, dass er so früh in Gefangenschaft geriet“, sagt Gabriele Krüger. Er hätte den Krieg sonst bestimmt nicht überlebt. Sie lacht. „Der Opa hatte zwei linke Hände, der kann ja gar nicht richtig schießen, hat Oma Frieda immer gesagt.“

Staatsbibliothek digitalisiert Erinnerungsstücke aus dem Ersten Weltkrieg

Die Pensionärin aus Biesdorf ist am Donnerstag in die Staatsbibliothek (Stabi) an der Potsdamer Straße gekommen, damit an ihren Erinnerungsstücken und Erzählungen künftig interessierte Menschen in ganz Europa teilhaben können. Die Briefe und Fotos aus dem Gefangenenlager, die sie mitgebracht hat, sollen nicht mehr länger zu Hause in Kisten verborgen bleiben. Und die Geschichten nicht mehr nur im Familienkreis weitergegeben werden. Deshalb sitzt Bibliothekarin Friederike Olchewski neben Försters Enkelin und tippt in den Computer, was diese über seine Kriegszeit berichtet. Briefe und Fotos wurden schon eingescannt.

Gabriele Krüger unterstützt mit ihren Erinnerungsstücken den ersten Aktionstag in der Bibliothek unter dem Motto: „Europeana 1914–1918. 100 Jahre Erster Weltkrieg in digitalen Zeitdokumenten.“ Vor drei Jahren wurde dieses Projekt in zwanzig europäischen Ländern gestartet, unterstützt von Bibliotheken, Historikerverbänden und Computerfirmen. Seither gibt es regelmäßig Aktionstage in europäischen Städten, zu denen Bürger private

Heinrich Reitz hat eine Mappe seines Urgroßvaters mit Vivat-Bändern gebracht: Bänder, die nach Schlachten zu Gunsten des Roten Kreuzes verkauft wurden.
Heinrich Reitz hat eine Mappe seines Urgroßvaters mit Vivat-Bändern gebracht: Bänder, die nach Schlachten zu Gunsten des Roten Kreuzes verkauft wurden.

© Christoph Stollowsky

Erinnerungsstücke ihrer Vorfahren bringen können. Schreiben, Tagebücher, Fotografien, Orden – alles wird entgegengenommen und sofort gescannt. Und die Geschichten dazu werden notiert. Anschließend können die Besitzer die Dinge gleich wieder mitnehmen. Etwa acht Wochen später ist das Material schon online verfügbar. „An einen solchen Schatz von Dokumenten konnten wir ohne dieses Vorhaben bislang gar nicht herankommen“, sagen Stabi-Mitarbeiter.

Zeichnungen, Fotos und Schärpen - die Berliner Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg

Rund fünfzig Berliner und Brandenburger kramten für den ersten Aktionstag in ihren Familienarchiven. Unter ihnen auch Heinrich Reitz , Diplomchemiker aus Wilmersdorf. Er erinnerte sich an eine große Mappe. „Die hatte er bislang immer nur bei Umzügen in der Hand.“ Sie gehörte einst seinem Urgroßvater, einem General a. D. Nun bindet er sie auf, von Neugierigen umringt. Gut hundert bunte Schärpen, bestens erhalten, sind auf den grauen Seiten befestigt. Sogenannte Vivat-Bänder. „Vivat den Eroberern der Panzerfeste Vaux“ steht auf einem blauen Seidenband. Kronprinz Wilhelm ist auf einem Roten zitiert: „...und wenn die Welt voll Teufel ist und gegen uns in Waffen

Gabriele Krüger lässt die Liebesbriefe ihres Großvaters aus dem Kriegsgefangenenlager einscannen.
Gabriele Krüger lässt die Liebesbriefe ihres Großvaters aus dem Kriegsgefangenenlager einscannen.

© Christoph Stollowsky

steht. Wir wollen mit ihr schon fertig werden.“ Die Bänder wurden nach jeder gewonnenen, aber auch verlorenen Schlacht zugunsten des Roten Kreuzes verkauft. Heinrich Reitz lässt die Mappe gleich in der Stabi. Als Geschenk. „Da ist sie besser aufgehoben.“

Nebenan auf einem Scanner werden die Zeichnungen eines Offiziers aus Kreuzberg digitalisiert. Er hat eine Galerie seiner Kriegserlebnisse mit dem Bleistift geschaffen. „Die Essensholer“ heißt ein Bild. Soldaten stürmen mit Blechgeschirren eine Feldküche. Und Günter Reipert, 75, aus Britz hat das Kriegsschicksal seines Großvaters Otto auf Fotos vor sich ausgebreitet. Der war Bildhauer, wurde 1915 eingezogen. Beim Abmarsch abgelichtet mit Pickelhaube und Schnauzer. Später nahm er seine Schützengräben in Frankreich und Russland auf – bis ihm der rechte Unterarm zerschossen wurde. Er kam ins Lazarett, die Kriegsbegeisterung war verflogen. Den Vierzeiler eines Arztes, der ihn versorgte, hat er zu den Bildern gelegt: „Wenn Ihr die Gräben bezogen und des Henkers Mahl genommen, seid Ihr in den Dämmerstreif zwischen dieser und jener Welt gekommen.“

Otto Reipert musste nicht zurück an die Front. Er hat überlebt wie Gabriele Krügers Großvater, der Kriegsgefangene Karl Hermann Förster. Als Förster 1920 heimkam, schenkten ihm seine zwei Kinder ihr Fotoporträt. Blumengeschmückt, mit weißen Kleidchen stehen die Mädchen da. Fünf Jahre lang hatten sie ihren Vater nicht gesehen. Gabriele Krügers Mutter war bei seiner Rückkehr noch nicht auf der Welt. Sie wurde erst neun Monate später geboren – als „Heimkehrerkind“.

Auch am Freitag nimmt die Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße 33 von 10–18 Uhr Erinnerungsstücke entgegen. Bereits erfasste Dokumente kann man online einsehen unter: www.europeana1914-1918.eu.

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