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Und alle packen mit an: Warum Berlin mehr Großereignisse braucht
1995 verhüllte der Künstler Christos den Reichstag. Obwohl das Erlebnis nichts am desolaten Zustand der Stadt änderte, stiftete es Gemeinschaft. Darum muss es auch bei einer Olympia-Bewerbung gehen.

Stand:
Christo hatte nicht zu viel versprochen, als er für die Idee einer Reichstagsverhüllung warb. Obwohl die Aktion selbst – nach jahrzehntelanger Vorarbeit – nur von kurzer Dauer war, verlieh die silberne Stoffhülle dem Parlament einen schwer erklärbaren Zauber. Der wirkt nach. Die Entrückung ließ den Wert einer solchen demokratischen Institution umso schärfer zutage treten, je verborgener sie hinter den Stoffbahnen erschien.
Daran will die Lichtprojektion derzeit erinnern, die einstige Mitstreiter des Künstlerpaars Christo und Jeanne-Claude initiiert haben. Dennoch ist sie ein schwacher Abglanz, nicht zu vergleichen mit dem Happening von vor 30 Jahren, als der monströse Aufwand die ganze Stadt beschäftigte.
Die, die dabei waren, erinnern sich entzückt an das ästhetische Erlebnis jener zwei sonnigen Juniwochen 1995. Unter einem riesigen blauen Himmel schimmerte die Hülle in wechselnden Grautönen, umringt von tausenden und abertausenden Menschen, die einfach nur zugegen sein und das sehen wollten. Später konnte man echte Stoffquadrate kaufen, mit dem Erlös refinanzierten Christo und Jeanne-Claude ihr Projekt. (Das hätte der DDR mal einfallen sollen mit der Mauer.)

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Wie viel Kommerz in dem Spektakel steckte, war Gegenstand erregter Diskussionen. Es ist im Nachhinein unerheblich. Berlin wurde um etwas bereichert, das nicht von ungefähr wie ein Geschenk verschnürt war, zu einer Zeit, als die Stadt vielerorts noch von schäbigen Fassaden und überwucherten Brachen geprägt war. Berlin war eine Wunderpackung, der verhüllte Reichstag das Symbol, in dem sich die unfertige Stadt wiedererkannte.
Viele meldeten sich freiwillig, um Christos und Jean-Claudes Team als Helfer zu verstärken, die Hülle vor Vandalismus zu schützen und ansprechbar zu sein für Besucher, die mehr über die Hintergründe erfahren wollten. Hunderte Berliner wachten über dieses „wahre Sommermärchen“, wie es der Tagesspiegel zum 25-jährigen Jubiläum rückblickend taufte. Das Heer an Freiwilligen war für das Gelingen der Sache so wichtig wie die Idee selbst. Denn sie waren wie die Besucher nur der Sache wegen vor Ort.
Man hat diese „Monitore“ später wiedergetroffen – bei der WM 2006, in den provisorischen Impfzentren 2021 –, als sie in neongelben, weißen oder orangefarbenen Westen den Weg wiesen, Fragen beantworteten und präsent waren. Ohne die Mitwirkung der Zivilgesellschaft lassen sich Großereignisse nicht bewerkstelligen.
Das ist unbedingt zu berücksichtigen, wenn Berlin sich für die Olympischen Sommerspiele bewerben will (warum nicht 2036?). Die wichtigste Botschaft einer Olympia-Kampagne kann nichts anderes sein als der Gemeinsinn, der sich in einer allgemeinen Teilhabe ausdrückt. Ihm verdanken Berliner immer wieder große Momente. Wir sind die Stadt.
Tausende und abertausende Helfer werden benötigt, um Besucher und Sportler durchs Verkehrsnetz zu Wettkampfstätten und Unterkünften zu schleusen. Aufräumen, die Stadt herrichten, von Müll und Unrat befreien, müssen wir alle, so spießig es klingen mag. Nur wenn es alle schon davor tun, kümmern sich danach auch alle.
Wo die Einbeziehung der Bürgerschaft in der Vergangenheit besonders gut gelungen ist, bei den Spielen von London 2012 und Paris 2024, da überstrahlt der Geist des Zusammenhalts alle sportlichen Weltrekorde und kommerziellen Aspekte. Und er lebt nach den Wochen der Euphorie fort in einem verstärkten Engagement der Bürger für „ihre“ Stadt.
Dennoch rufen Olympische Spiele heute Gegenkräfte hervor, die eine erfolgreiche Bewerbung unmöglich machen. In Berlin finden sie sich ebenfalls, und schwach sind sie nicht gerade, weil der Argwohn gegenüber kommerziellen Interessen und Lobby-Cliquen ausgeprägt ist. Es werde unnötig Geld zum Fenster rausgeworfen für Stadtmarketing und Sportanlagen im Goldstandard, das besser für soziale Aufgaben eingesetzt wäre, lautet das Argument. Ganz von der Hand zu weisen ist es nicht.

© IMAGO/Mathilde Mazars
Es heißt, dass Events eine Stadt zur Bühne machen. Aber wer außer Selbstdarstellern sollte davon etwas haben? Trotzdem ergibt sich eine mögliche Olympia-Dividende nicht nur aus der Modernisierung der urbanen Infrastruktur (München 1972), sondern auch aus dem Umstand, dass eine Stadtbevölkerung sich selbst als Stadtgesellschaft neu erfährt. Dieser Effekt ist nicht zu unterschätzen.
Wie wäre es etwa, wenn jeder Berliner Haushalt sich um die Patenschaft für einen Olympioniken oder einer Olympionikin bewerben könnte, mit der Aufgabe, sie oder ihn einen Tag lang am eigenen Leben teilhaben zu lassen?
Wir sind die Stadt, können Menschen nur selten von sich sagen. Vor dem verhüllten Reichstag konnten sie es sagen. Und es wäre schön, wenn man es in Berlin hundert Jahre nach den Nazi-Spielen wieder sagen könnte.
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