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Hilfe am Handy. Die Telefonseelsorge ist unter der Nummer 0800/1110111 zu erreichen.

© Michael Kappeler/dpa

Berliner Telefonseelsorgerin erzählt: Wenn Feiertage traurig machen

In der Zeit zwischen den Jahren fühlen sich viele Menschen einsam. Eine Telefonseelsorgerin berichtet über ihre Arbeit während der Festtage.

Die Frau war noch jung, man hörte es an der Stimme, nicht mehr minderjährig, aber auch nicht viel älter. Ihren Namen nannte sie nicht, das musste sie auch nicht, die Regeln erlauben das. Die junge Frau saß allein zu Hause, aufgewühlt, innerlich zerrissen, im Spannungsfeld zwischen Verantwortung für den Vater und die Mutter. Zwischen zwei voneinander getrennt lebenden Menschen, die ihre Kinder als emotionale Bindeglieder haben. Aber eines dieser Kinder fühlte sich überfordert, jetzt, Heiligabend.

Deshalb hatte die junge Frau angerufen. Sie erreichte Veronika Müller (Name geändert). Es war 19 Uhr, Veronika Müller hatte gerade ihre Schicht bei der „Kirchlichen Telefonseelsorge in Berlin und Brandenburg“ begonnen, die junge Frau war ihre erste Anruferin. Heiligabend in der Telefonseelsorge (Hotline: 0800/1110111), eine besondere Schicht. An keinem Tag kann das Gefühl von Einsamkeit so erdrückend auf der Seele liegen wie an diesem Tag.

Elf Gespräche zu Heiligabend

Elf Gespräche führte Veronika Müller, die Schicht dauerte bis 3 Uhr. Zehn davon variierten um ein einziges Thema: Einsamkeit an diesem speziellen Tag, das niederschmetternde Gefühl, ausgeschlossen zu sein, das Bild, vor der Restauranttür zu stehen und zu hungern, während hinter der Glasscheibe köstliches Essen aufgetischt wird.

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„Es geht um die Frage: Wie erlebe ich Weihnachten? Ich bin allein und alle anderen feiern gemütlich mit der Familie, das ist das Gefühl“, sagt Veronika Müller. „In solchen Momenten wird auch eine Welt idealisiert.“

Es geht um Trost und Verständnis

Aber wie reagiert man auf so ein Wunschbild? Die Menschen, die sich melden, erwarten Trost und Verständnis. Denen sagt man nicht plump: In anderen Familien wird durchaus gestritten, alles halb so wild. Veronika Müller hörte erst mal zu. „Dann stoße ich langsam aufs Thema vor, dass nicht alles schöne Welt ist, aber vorsichtig natürlich.“ Letztlich wüssten die Anruferinnen, an diesem Abend waren es tatsächlich nur Frauen, ja selbst, dass sie Wunschbildern nachhängen.

„Ratschläge sind nicht unbedingt das Ziel eines Gesprächs“, sagt die 64-Jährige. Seelische Entlastung des anderen, das ist das Ziel.

Nur die junge Frau, die um 19 Uhr anrief, die träumte nicht vom „Heile-Welt-Bild“ mit ihr selber als Opfer. Ihre Realität fühlte sich so trist an wie die der anderen Anrufer, aber sie wollte in diesem deprimierenden Alltag helfen, nicht ihr sollte geholfen werden.

Wie sollte sie den Vater unterstützen in diesem Moment, an diesem Abend, an dem er allein zu Hause saß? Das war eine ihrer Fragen. Und: „Soll ich ihm den Schnaps wegnehmen?“ Die junge Frau hatte den Vater gerade besucht, jetzt hatte sie Schuldgefühle, aber mit wem sollte sie darüber reden? Mit der Mutter ging nicht. Und der Bruder war nicht neutral genug. „Der stand eher auf der Seite der Mutter“.

Seit drei Jahren bei der Telefonseelsorge

Also suchte die Frau Halt bei der Telefonseelsorge. Seit drei Jahren arbeitet Veronika Müller dort, für sie „eine sinnvolle Tätigkeit im Ruhestand“. Ruhestand? Im Grunde verlängert die 64-Jährige nur ihren Job. Ihr ganzes Berufsleben lang hat sie als Psychotherapeutin zugehört.

Auch die junge Frau merkte schnell, dass sie auf jemanden getroffen war, der ihre Probleme sehr gut verstand. „Sie fühlte sich entlastet“, sagt Veronika Müller. „Sie wusste, dass sie mit ihrer Zerrissenheit nicht allein und hilflos dastand.“

Die Frau war deutlich die Jüngste in dieser Schicht. Die Altersspanne bewegte sich ansonsten zwischen Mitte 30 und 81. Und immer hatte sie Frauen am Telefon. Viele hatten Kinder oder Geschwister, aber was nützt eine Familie, wenn sich die Mitglieder nicht melden oder jedenfalls nicht so, dass es aus Sicht der Anruferinnen zufriedenstellend war?

So standen diese Frauen alle vor der gleichen Herausforderung. Wie gestalte ich den Abend? Das Problem vieler Anrufer sei: „Sie können nicht einfach in die Kirche gehen oder ins Café um die Ecke“, sagt Veronika Müller. Natürlich gibt es viele Möglichkeiten, natürlich kann man in einer Stadt wie Berlin dem Gefühl der Einsamkeit leicht entfliehen. Es gibt unzählige Angebote für Personen, die sich verloren fühlen.

„Aber viele Menschen, die bei der Telefonseelsorge anrufen, sind aus verschiedenen Gründen nicht sehr aktiv, oft können sie es gar nicht sein. Sie haben auch unterm Jahr nicht so viele soziale Kontakte“, sagt Veronika Müller. „Und ausgerechnet Heiligabend sollen sie plötzlich losgehen? Das können sie nicht.“ Und welches Café hat schon Heiligabend nach Einbruch der Dunkelheit auf? Da kann man lange suchen.

Die Option, kurz zum Telefon zu greifen, um Bekannte anzurufen, fällt natürlich auch aus. Diese Bekannten will man ja nicht stören, nicht Heiligabend, vielleicht auch noch mitten in der Bescherung. Bleibt nur eine Nummer: die der Telefonseelsorge.

Die Mutter war Heiligabend nicht eingeladen

Deshalb meldete sich auch die 81-Jährige. Sie war nicht wirklich allein, sie hatte Kinder, die am ersten Weihnachtstag zum Essen kommen wollten. Die hatten einen Blick für die Mutter, aber nicht den, den sich die Seniorin gewünscht hätte. Ein Essen am ersten Weihnachtstag ersetzt für sie nicht die besinnliche Stimmung zu Heiligabend, dem Kern von Weihnachten. In diesen Stunden ist die emotionale Verbundenheit am stärksten, dafür gibt es keine angemessene Kompensation. Aber die Mutter war nicht eingeladen zur Feier unterm Tannenbaum. „Das hat sie sehr gekränkt“, sagt Veronika Müller.

Dieses Mal keine aufwühlenden Gespräche

Es war nicht ihre erste Schicht in der Telefonseelsorge Heiligabend, und die Themen, bei denen sie zuhörte, bildeten auch keine Überraschung. Dass es viel um Einsamkeit gehen würde, war zu erwarten. „Es waren für mich auch keine besonders aufwühlenden Gespräche.“ Unterm Jahr kann es Schichten geben, in denen Menschen anrufen, die mit Selbstmord drohen, die dabei so verzweifelt schluchzen und glaubhaft sind, dass über eine zweite Leitung ein Notarzt gerufen wird. Veronika Müller ist das Heiligabend erspart geblieben.

Stattdessen sprach sie eine Stunde lang mit einer „sehr reflektierten Frau“. Natürlich ging es um ein trauriges Thema, „aber die Frau hat es einem sehr einfach gemacht, mit ihr zu reden“. Die Anruferin wollte vor allem einen Dialog, und den hat ihr Veronika Müller geboten. Dann beendete die Frau das Gespräch mit jenem Wort, das für Veronika Müller den wichtigsten Lohn ihrer Arbeit darstellt: „Danke.“

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