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Darstellung des Computermodells von Alacris Theranostics: Die Punkte stehen für Gene und Proteine, die Verbindungslinien für ihr Zusammenspiel. Gleiche Farben kennzeichnen eine hohe Vernetzung.

© Illustration: Alacris (Promo)

Alacris Theranostics: Wie ein Computermodell die Krebstherapie revolutionieren soll

Die Adlershofer Firma Alacris Theranostics simuliert Krebs im Computer. Tierversuche könnten so überflüssig werden.

Von Jonas Bickelmann

Auch wenn es so aussieht, das obige Artikelbild ist keine abstrakte Kunst. Es handelt sich stattdessen um die Darstellung eines medizinischen Computermodells: Die Punkte stehen für Gene und Proteine, die Verbindungslinien für ihr Zusammenspiel. Gleiche Farben kennzeichnen eine hohe Vernetzung.

Was gäben Pharmafirmen wohl dafür, könnten sie jeden Krebs so im Computer darstellen und studieren? Eine Antwort lautet: 800.000 Euro. Als erste kleine Anzahlung. So viel Geld hat zumindest das Adlershofer Unternehmen Alacris Theranostics per Crowdfunding eingesammelt. Die 20 Mitarbeiter forschen auf einem recht neuen Feld: simulierte Biologie.

Die niederländische Biotech-Firma Qiagen investierte jetzt in Alacris, eine Ausgründung des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik, und erhielt dafür Anteile. Um die virtuelle Krebszelle, derzeit im Versuchsstadium, auch auf den Markt zu bringen, braucht das Unternehmen aber noch mehr Kapital. Zunächst sollen Analysen in den eigenen Labors in Adlershof stattfinden – für spätere Phasen sei ein Lizenzmodell denkbar, sagt Lange.

„Wir können jetzt aus der Forschung das praktisch umsetzen, was wirklich eine echte Chance hat, den Patienten zu helfen“, sagt Geschäftsführer Bodo Lange. Er kommt direkt aus dem Forschungsbetrieb, als Firmengründer hatte er keine Erfahrungen. „So eine Möglichkeit bekommt man nicht häufig geboten“, weiß er. Der Umstieg in die Wirtschaft sei für ihn mit einer „steilen Lernkurve“ verbunden.

Doch auch als Unternehmer forscht er weiter. Die Modelle von Alacris simulieren keinen ganzen Organismus, sondern nur einen Teil einer einzelnen Krebszelle. Aber auch damit ließen sich erste Hinweise für die Behandlung von Krebskranken finden. „Wir sequenzieren und analysieren den Patienten und seinen Krebs und simulieren die Effekte verschiedener Medikamente.“

Firma hat bereits Genanalyse für Tumorgewebe auf dem Markt

„Der Arzt bekommt einen Report mit den Ergebnissen der molekularen Tumoranalyse zu Änderungen, die in dem Tumor vorliegen, und zusätzlich Ergebnisse aus der Simulation“, erläutert Alacris’ Bioinformatik-Chef Christoph Wierling. Das Unternehmen hat bereits eine Genanalyse für Tumorgewebe auf dem Markt. Als Teil von Studien wird das bereits erprobt, kommerziell verfügbar soll die virtuelle Zelle in den nächsten zwei Jahren sein.

Christoph Wierling
Christoph Wierling

© Alacris/Gesine Born (Promo)

Alacris entwickelt eine Technologie, die ein altes Problem der wissenschaftlichen Medizin lösen könnte: So ermittelt die wissenschaftliche Medizin häufig nur, ob ein Medikament eine bestimmte Wirkung zeigt. Warum genau es sie zeigt, bleibt in der Regel offen. Christoph Wierling möchte das ergründen, in der Simulation: „Wir bauen uns die Abläufe in der Zelle mit den Abhängigkeiten voneinander nach. Wenn man A bewegt, führt das zu Änderungen an B und an C und so weiter.“

Wie eine Simulation der Berliner U-Bahnlinien

Vereinfacht gesagt entspricht dieses Computermodell einer Simulation der Berliner U-Bahnlinien. Fallen Verbindungen aus oder sind Wege blockiert, kann das Modell berechnen, was die Auswirkungen der ausfallenden Verbindungen auf den „gesunden“, den normalen Verkehrsfluss, sind und wie man eingreifen müsste, um ihn wieder unter Kontrolle zu bringen.

In komplizierten Fahrplänen mit vielen Linien kann kein Mensch den Überblick behalten, so müssen Computerprogramme eingesetzt werden, um mögliche Ausfälle zu berechnen, auszugleichen oder diese überhaupt erst zu vermeiden.

Um im Bilde zu bleiben: Wenn im Modell ein Zug der U6 wegen technischer Probleme stehen bleibt, entsteht Chaos: Reisende kommen nicht weiter. Analog dazu bedeutet das in der Zelle: Wenn bestimmte Fehler auftreten, entsteht Krebs. Eine logische Struktur ähnlich der von U-Bahn-Linien findet sich auch im Computermodell eines Signalwegs – nur mit viel mehr Verzweigungen als etwa im Netzplan der Berliner BVG.

Bekannt ist die Wirkweise bestimmter Medikamente, also wo sie innerhalb der Signalkette ansetzen, und was sie auslösen. Im U-Bahn-Modell entspräche dem Medikament vielleicht einer Technikerin, die eine Strecke wieder befahrbar macht.

Krebs beruht auf Änderungen der DNA bei der Zellteilung

Bei Krebs ist die Genanalyse noch aufschlussreicher als bei anderen Erkrankungen. Denn Krebs beruht auf Änderungen der DNA bei der Zellteilung. „Wenn es beispielsweise zu Kopierfehlern kommt, stellt die Zelle das fest und will es korrigieren. Kann sie das nicht, geht sie ins Selbstmordprogramm, um zu verhindern, dass die fehlerhafte Information weitergegeben wird. Wenn diese Programme nicht gestartet werden, weil einige Krebszellen diese Korrekturprogramme auch ausstellen können, dann kann es in der Folge zu Krebs kommen“, erklärt Wierling.

Ist der Tumor bereits da, können die Tumorzellen durch die sogenannte Sequenzierung auf ihre genetische Zusammensetzung untersucht werden. Wo sich die Abfolge der DNA-Basen von der gesunden Zelle unterscheidet, sind Änderungen in der DNA aufgetreten. In dem Computermodell wird die erkrankte Zelle nachgebaut. „Jeder Krebs ist unterschiedlich, eine Mutation kann an der einen oder anderen Stelle auftreten“, sagt Wierling. So viele Daten kann nur ein komplexes Computermodell berücksichtigen.

„Da kommen Sie mit Statistik irgendwann nicht mehr weiter“

Mit diesem Ansatz unterscheidet sich der virtuelle Patient von Alacris sowohl von statistischen Tests, als auch von Ansätzen mit Künstlicher Intelligenz. „Wir haben 20.000 Gene und in jedem kann eine x-beliebige Anzahl von Änderungen auftreten, das sind mehr Möglichkeiten als es Wasserstoffmoleküle im Weltall gibt. Da kommen Sie mit Statistik irgendwann auch nicht mehr weiter“, erklärt Geschäftsführer Bodo Lange.

Bodo Lange
Bodo Lange

© Alacris/Gesine Born (Promo)

Statistische Methoden werden in klassischen Medikamententests angewandt. Statistisch heißt dabei, dass an einer großen Zahl von Testpersonen beobachtet wird, ob das Testmedikament wirkt. Wie es im komplexen Netzwerk der Zelle wirkt und warum es bei bestimmten Patienten nicht wirkt, sieht man nicht. Es ist das Prinzip Trial and Error.

Auch moderne Künstliche Intelligenz ermögliche keinen Einblick in die Wirkweise. „Bei der KI ist das eher wie eine Blackbox, man hat Input und Output, aber man kann häufig nicht verstehen, warum A jetzt zu B führt“, sagt Wierling.

„Wir schauen in die Molekularbiologie der letzten 50 Jahre“

Wer aber verstehen will, wie Wirkungen entstehen, muss die zugrundeliegenden Prozesse nachvollziehen. Die bei Alacris entwickelte Simulation bildet im Gegensatz zur Blackbox und zu Trial and Error die kausale Ketten im Modell nach, also die Ursachen und Wirkungen von Krankheiten. KI kann das ergänzen.

Aber wie kann ein Computermodell, „in silico“, einem Patienten aus Fleisch und Blut entsprechen? Die Annahme von Christoph Wierling ist, dass sich bestimmte Signale und die Reaktionen darauf im Organismus als Bestandteile eines Computermodells darstellen lassen, ähnlich wie reale U-Bahnen. Die Erkenntnisse der Forschung zu den Abläufen in einer Krebszelle gehen erstaunlich weit. „Wir schauen in die Molekularbiologie der letzten 50 Jahre und bauen als Modell nach, was die Wissenschaft schon gefunden hat“, sagt Wierling.

Der ärztliche Blick ist nicht zu ersetzen

Wenn sich die Technik so weiterentwickelt, wie Lange und Wierling hoffen, könnten Computermodelle in der Zukunft medizinische Studien an Menschen oder Tieren ersetzen oder wenigstens stark reduzieren. Bodo Lange schränkt aber ein: „Der Arzt muss dann die Entscheidung treffen, dafür muss er noch andere Fragen berücksichtigen.“

Die Wirkungen in der virtuellen Zelle dienen als Anhaltspunkte für die Behandlung. Sie können den ärztlichen Blick nicht ersetzen. Aber sie erlauben dem Arzt, verschiedene Ausgänge zu erproben, wie es in der Realität niemals ginge.

Ein Problem aber lässt sich nicht umgehen: Jedes Modell kann nur einige Merkmale des Originals abbilden, nicht alle. „Natürlich ist unser Modell nicht komplett“, sagt Bodo Lange. „Das ist klar und daran arbeiten wir. Aber die Modelle können schon jetzt Informationen über Signalflüsse in Krebszellen liefern.“ Derzeit bekämen drei von vier Patienten bei bestimmten Krebstypen nicht das richtige Medikament, weil es nicht genau auf sie abgestimmt werden könne.

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