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Wenn sexuelle Übergriffe passieren, sind die Täter meist Familienangehörige oder Freunde.

© Daniel Bockwoldt/dpa

Signale und Maßnahmen: Wie man sexuellen Missbrauch an Kindern erkennt und wie man am besten reagiert

Wenn Mädchen oder Jungen plötzlich ihr Verhalten ändern oder ihre Distanz verlieren, sollten Erwachsene aufhorchen.

Eigentlich sollen Kinder sorgenfrei groß werden können und Erwachsene für Schutz und Erziehung da sein. Doch jedes siebte Mädchen und jeder siebte Junge erleidet sexuelle Gewalt – von der Anzüglichkeit über das Versenden von übergriffigen Fotos und mitgefilmten intimen Szenen per Handy oder das Chatten im Internet zum Zweck der Selbstbefriedigung bis hin zu körperlichen Übergriffen. Missbrauchsfälle kommen vor allem im familiären Umfeld vor und Betroffene tragen das Leid oft ihr Leben lang mit sich.

Zuletzt wurden bei der „Me-Too“-Debatte auch viele spektakuläre Fälle öffentlich, sei es bei Turnerinnen oder im Streit zwischen Woody Allen und seiner Tochter Dylan. Erziehungsberechtigte verkaufen gar Dienste ihrer Schützlinge an Pädophile. Beim sexuellen Missbrauch in allen Gesellschaftsschichten sind laut den Experten die Täter meist Vater oder Freund der Mutter, Onkel, Opa, Bruder oder Freund der Familie. Täter nutzen Abhängigkeitsverhältnisse aus. Wie spricht man das Thema Sexualität zu Hause am besten an, was sind Symptome für Missbrauch, wie sollten Familienangehörige, Freunde, Lehrer oder Nachbarn reagieren – und welche Hilfen gibt es? Irina Stolz vom Hilfeverein Wildwasser für Mädchen und junge Frauen berichtet.

Bitte keine Scham

Sexualität ist etwas Intimes und für viele Menschen auch schambehaftet. Selbst Erwachsene schaffen es manchmal nicht, in Beziehungen wahre Bedürfnisse zu äußern, haben teils keinen Sex mehr in der Ehe. Dann fällt es erst recht schwer, das Kind aufzuklären und mit ihm über Sexualität zu reden. Später redet ein Jugendlicher ohnehin lieber mit Gleichaltrigen über Sexualität als mit den Eltern .

Doch ist es laut Experten wichtig, bereits dem Kind Signale zu geben, dass das Thema Sexualität nichts Schlimmes oder gar tabu ist. Mütter und Väter sollten auch nicht von „dem Ding“, „der Sache“ oder „da unten“ reden – das signalisiert dem Kind, dass Körperlichkeit etwas ist, worüber die Erwachsenen nicht reden und es selbst lieber auch schweigen sollte.

Doch schon als Baby und im Kita-Alter erkunden Kinder den eigenen Körper, von Erzieherinnen kennen sie vielleicht das Wort „Muschi“. Bei der Aufklärung sollten Erziehungsberechtigte Wörter wie Penis, Vagina oder Scheide normal aussprechen. Je unverkrampfter der Umgang, desto selbstverständlicher wird Sohn oder Tochter darüber reden können, wenn jemand anderes diese unsichtbare persönliche Schwelle übertritt und sich etwas nicht richtig anfühlt.

Signalisieren: Ich bin da für dich

Familienalltag, gerade auch von Alleinerziehenden, ist oft ein Kampf gegen die Uhr. Dennoch sollten Väter und Mütter ihren eigenen Stress nicht aufs Kind übertragen. Es hat feine Antennen und traut sich dann nicht, den Erwachsenen zu belasten. Signalisieren Sie: Egal, was du auf der Seele hast, sag es mir. Ich freue mich darüber und halte alles aus.

Wann dringend aufhorchen?

Prinzipiell sollten alle Erwachsenen aufhorchen, wenn sich ein Mädchen oder Junge plötzlich oder nachhaltig im Verhalten ändert. Sind ruhige Kinder aufgekratzt, ziehen sich agile Typen zurück? Wirkt ein Mädchen untypisch traurig oder aggressiv? Setzt es sich gleich auf den Schoß eines Unbekannten oder macht es einer fremden Frau mit Männerworten Komplimente? Führt es sich altersuntypisch sexualisiert auf, mit Kleidung oder Schminke, verhält es sich selbst distanzlos? Meidet es bestimmte Situationen? Schwärmereien etwa für Lehrer sind normal, offene Anmache nicht.

Verbündete suchen

Experten raten, zunächst mit dem Kind selbst zu sprechen, sensibel, vorsichtig und vertrauensvoll. Eine befreundete Mutter könnte etwa sagen: Mir ist aufgefallen, dass du dich immer gern auf den Schoß von einer bestimmten Person setzt. Dann kann sie zuhören, was das Kind sagt und Brücken bauen, Aussagen mit fragenden Unterton wiederholen. Bitte immer das Kind mit einbeziehen! Sonst hat es das Gefühl, jemand von außen agiere womöglich gegen den geliebten Vater oder Onkel.

Ein Satz des Hilfeangebots könnte sein: Wollen wir mal zusammen mit der Mama sprechen? Oder möchtest du lieber, dass ich es ihr sage? Auf keinen Fall gleich direkt auf den Tatverdächtigen zugehen, da dieser dann oft noch mehr Druck auf das Kind ausübt, das „Geheimnis“ auf jeden Fall für sich zu behalten. Erst Verbündete, erwachsene Vertrauenspersonen zur Stärkung mit einbeziehen. Bei Kindern unter 14 Jahren ist sexueller Missbrauch ein Kinderschutzfall, dann sollten Sie bei dringendem Tatverdacht beispielsweise zur Familienberatungsstelle des bezirklichen Jugendamtes gehen. Ist es ein Trainer, beziehen Sie die Vereinsleitung mit ein. Täter haben oft ein Machtpotenzial, setzen Kinder oder Mitglieder unter Druck: Der Junge lügt!

In der Schule Brücken bauen

Gute Sexualität, schlechte Sexualität? Gerade in der Pubertät ist Sex ein schwieriges Thema. Jeder kommt heute im Internet gratis an Pornoseiten mit jeglicher Spielart-Kategorie heran. Andererseits gucken muslimisch geprägte Jungs teils schon bei Küssen auf der Kinoleinwand peinlich berührt weg und duschen, das beobachten Berliner vielerorts, in Unterhose. Um so besser, wenn in der Schule am Schwarzen Brett ein Plakat mit Service-Nummer hängt, das man schnell heimlich abfotografieren kann. Oder Flyer ausliegen, die rasch im Schulrucksack verschwinden können.

Anzeige bei der Polizei erstatten?

Dazu raten Fachleute nicht immer sofort. Fälle können auch zehn Jahre später noch rechtskräftig angezeigt werden, wenn das Mädchen erwachsener und stärker ist. Vereine gewähren Zeugenbegleitung.

Worauf man gefasst sein muss?

Auf mehr, als Erwachsene von früher her kennen. Heute kann es passieren, dass Kids Oralverkehr mitfilmen und das Video per Whatsapp im Klassenchat rund senden. Freunde „verkaufen“ ihre Freundin als sogenannte Loverboys wie Prostituierte, teils an alte Männer: „Wenn du mich liebst, machst du das!“ Migrationsexperten wissen, dass Flüchtlinge etwa auf der Balkanroute Kinder zum Schutz und fürs Weiterkommen Schleppern anboten. Grenzsoldaten verlangten Frauen.

Was fehlt

Aus Sicht von Experten fehlen langfristige, neue Konzepte. Es würden zu oft befristete Modellprojekte, etwa an Schulen finanziert. Zudem brauche jede Schule mindestens einen Sozialarbeiter, und Berlin benötige Konzepte für minderjährige unbegleitete und andere junge Flüchtlinge. Sie leben meist über Jahre in Jugendwohngruppen, oft mit nur wenig pädagogischem Personal. Manche auch gar nicht vorbelastete Kinder oder Jugendliche würden nun auffällig, weil sie keine Aufgabe, Beschäftigung oder Ausbildung haben.

Sie sitzen den Tag im „Camp“ ab, fühlen sich nicht mehr wichtig oder männlich und würden so infolge von Ersatzbefriedigung etwa durch Drogen oder illegalen Gelderwerb auffällig oder anfällig, warnen Wildwasser-Experten. Es kommen auch Mädchen aus Flüchtlingsunterkünften in die Beratung und die Unterbringung. Das „Bündnis für den Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt“ fordert, Maßnahmen in die Koalitionsvereinbarungen mit aufzunehmen.

Wo man sich hinwenden kann

An das Hilfetelefon bei sexuellem Missbrauch, kostenfrei und anonym: 0800 22 555 30. Ehrenamtliche engagieren sich in vielen Selbsthilfegruppen (Info: www.sekis-berlin.de, Tel. 892 66 02). Hauptamtliche bei den freien Trägern sind in der Berliner Fachrunde gegen sexuellen Missbrauch. Dazu gehört der Verein Wildwasser (Mädchenberatung: 486 28 222, 282 44 27. Im Jahr 2017 wurden allein bei Mädchen und jungen Frauen 2957 Beratungskontakte bilanziert. Die Selbsthilfe & Beratung für erwachsene Frauen: Friesenstr. 6, 10965 Berlin, (Telefon 693 91 92). Zudem gibt es KiZ - Kind im Zentrum, Maxstraße. 3 a, 13347 Berlin. Tel. 282 80 77. Das Krisen- und Beratungszentrum Lara bietet unbürokratische Hilfen für Frauen nach dem 14. Lebensjahr, die Vergewaltigung, sexuelle An- und Übergriffe und sexuelle Belästigung erfahren haben, Tel. 216 88 88. Das Projekt Berliner Jungs hat die Nummer 236 33 983, und Tauwetter berät Männer, auch in Selbsthilfegruppen ( 693 80 07. Wenn die Jugendämter geschlossen haben, bietet der öffentliche Dienst über den Berliner Notdienst Kinderschutz Krisentelefone für Kinder, Tel. 61 00 61, Mädchen 61 00 63, für Jugendliche 61 00 62. Hotline Kinderschutz: 61 00 66 - diese Stellen können auch sofort Kinder aus der Familie nehmen.

Wie man vorbeugen kann

Durch Angebote für Kitas und Schulen, Fachstelle für Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen, Strohhalm e.V., (614 18 29).

Info und Beratung im Netz: jugendnotmail.de, hilfeportal-missbrauch.de, kein-taeter-werden.de, kein-raum-fuer-missbrauch.de

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