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Anton Höffer grub sich durch die Archive des Märkischen Viertels.

© David Außerhofer

Update

Wettbewerb des Bundespräsidenten: Wie Ulrike Meinhof, die FDJ und das Märkische Viertel zusammenhängen

Als das Märkische Viertel rot werden sollte: Ein Reinickendorfer Schüler gewinnt mit einer akribischen Recherche den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten.

Gar nicht so lange her und dennoch verschüttet: Wer über die 68er-Bewegung nachdenkt, dem fällt bestimmt eine Menge ein, nur nicht dies: das Märkische Viertel als Schauplatz eines ganz ansehnlichen Klassenkampfes. Und doch gab es diese Episode.

Zurückgeholt aus den Fernen der Archive hat sie ein 18-jähriger Berliner. An diesem Dienstag bekommt Anton Höffer dafür den 1. Preis beim traditionsreichen Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Denn das, was er zutage förderte, ist beeindruckend: inhaltlich, formal, sprachlich. Überdies lobt Geschichtsprofessor und Jurymitglied Detlef Siegfried, dass es „wirklich eine innovative Perspektive ist, um 1968 auf eine neue Art und Weise zu betrachten“.

„So geht’s nicht weiter. Krise, Umbruch, Aufbruch“, lautete das Motto des Wettbewerbs – ein großer Rahmen also. Aber der Reinickendorfer Schüler entschied sich für eine Geschichte vor seiner Haustür, für die Anfänge des Märkischen Viertels.

Gespräche mit der Familie und mit seinem Tutor hatten ihn zu seinem Forschungsthema gebracht – dem linken Widerstand gegen das West-Berliner Bauprojekt Märkisches Viertel Ende der 1960er Jahre.

„Neben den prominenten Konfliktherden Kreuzberg und Neukölln sind die Auseinandersetzungen um das Neubauviertel im Nordwesten Berlins kaum bekannt und wenig erforscht“, erläutert die Körber-Stiftung, die den Preis seit vielen Jahren begleitet.

Es fehlten Kitas, Schulen, Jugendzentren

„Am Anfang waren alle voll des Lobes“, erzählt Anton über die Frühphase des ehrgeizigen Neubauprojekts. Schon 1963 sei das erste Haus fertig gewesen. „Aber dann ist die Infrastruktur nicht mitgewachsen“, nennt der frischgebackene Preisträger einen Grund dafür, warum die Hochhaussiedlung ins Gerede kam: „Es fehlte die U-Bahn, es fehlten Kitas, Schulen, Jugendzentren“.

Am Dienstag bekam er die Auszeichnung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue.
Am Dienstag bekam er die Auszeichnung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue.

© Wolfgang Kumm/dpa

Immer lauter artikulierten die Anwohner ihre Kritik, und es dauert nicht lange, bis die außerparlamentarische Opposition auf die Idee kam, „die Unzufriedenheit für die eigenen Belange zu instrumentalisieren“, berichtet Anton über die Anfänge der Bewegung, die „ein rotes Märkisches Viertel wollte“. Der Titel seiner Arbeit lautet deshalb: „Sie liebten die Krise. Linke Agitation in einem West-Berliner Neubauviertel im zeitlichen Rahmen der 68er-Bewegung“.

Ulrike Meinhof war dabei – und die FDJ

Die Rote Armee Fraktion – sie gab es damals noch nicht. Aber es gab ihre Protagonisten: Mit Ulrike Meinhof und Horst Mahler nennt Anton die bekanntesten. Er hat in Zeitungen, Büchern und Archiven sowie durch Zeitzeugeninterviews die entsprechenden Belege gefunden und in seine 60-Seiten-Arbeit hineingewebt.

Ein gute Quelle war für ihn offenbar die „Märkische Viertel Zeitung“ (MVZ), die - nicht nur, aber auch - linksextreme Ansichten unters Volk bringen sollte: Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) Westberlin habe in der MVZ Anzeigen geschaltet, um sie zu unterstützen, berichtet Anton.

Und? Waren die linksextremen Studenten erfolgreich? Konnten sie aus der Notlage im Märkischen Viertel Funken schlagen für ihre Ziele? Nein, sagt der Junghistoriker, und das habe zwei Gründe gehabt: Zum einen waren die Anwohner letztlich nicht offen für radikale Ideen, sondern wollten schlicht eine bessere Infrastruktur. Zum anderen hätten Bezirk und Senat die politische Gefahr erkannt und gegengesteuert, um die Wohn- und Lebensqualität zu verbessern.

Die Schule unterstützt die Teilnehmer des Wettbewerbs

Es war für Anton bereits der zweite Durchgang beim Wettbewerb des Bundespräsidenten: Im ersten Durchgang 2017 hatte sich der Schüler mit der Bekennenden Kirche beschäftigt, aber nur einen Förderpreis bekommen. Das reichte ihm nicht. Da passte es, dass seine Schule, das Europäische Gymnasium Bertha-von-Suttner, die Beteiligung am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten stark fördert und ihn auch beim zweiten Anlauf unterstützte.

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„Ich wollte unbedingt an dem Wettbewerb teilnehmen“, erzählt Anton Höffer, der nach dem diesjährigen Abitur bereits in Münster Jura studiert und jetzt extra nach Berlin gekommen ist, um sich im Schloss Bellevue die Auszeichnung abzuholen – von Frank-Walter Steinmeier höchstpersönlich.

Antons Fazit: „Die Extremen liebten die Krise und führten damit ungewollt eine Verbesserung des demokratischen Systems herbei. Sollte deswegen auch die Demokratie die Krise lieben lernen? Sicherlich nicht, zu oft haben sie schon ihre destruktive Kraft bewiesen. Und doch ist die Krise auch eine Chance für die Demokratie, sich zu verbessern und ihrer Werte in schweren Zeiten zu behaupten“.

Das Märkischen Viertel: Erst litt es unter fehlender Infrastruktur, dann unter seinem Ruf als anonymer Moloch.
Das Märkischen Viertel: Erst litt es unter fehlender Infrastruktur, dann unter seinem Ruf als anonymer Moloch.

© Kai-Uwe Heinrich

Fünf erste Preise, 500 Förderpreise

Der Wettbewerb ist so aufgebaut, dass es fünf erste Preise sowie auf Landesebene 500 Förderpreise gibt. Die bundesweit besten 50 Arbeiten werden zusätzlich auf Bundesebene mit einem ersten, zweiten oder dritten Bundespreis ausgezeichnet. Bei den weiteren vier Bundespreisträgern handelt es sich um:

  • Fünft- und Sechstklässler der CJD Christophorusschule Droyßig, Sachsen-Anhalt. Thema: „Gehören die Bären nach Droyßig? Die Tradition der Droyßiger Bärenhaltung“.
  • Floria Herget, 10. Klasse, Romain-Rolland-Gymnasium, Dresden, Sachsen. Thema: „Réfugiés Bienvenue? Integration und Assimilation von Hugenotten und Waldensern in Hessen-Kassel im 17. und 18. Jahrhundert“.
  • Lena Huynh, 13. Klasse, Friedensschule Münster Gesamtschule, Nordrhein-Westfalen, Titel: „Das Leben mit der Krise. Vietnamesische Boatpeople als Folge des Vietnamkrieges“.
  • Julius Klingemann, 9. Klasse, Einstein-Gymnasium Potsdam, Brandenburg, Titel: „Verleugnete Krise. Die Gruppenflucht der Potsdamer Einsteinschüler 1950“.

Die fünf Hauptpreisträger erhalten je 2000 Euro, 15 weitere Schüler bekommen je 1000 Euro und 30 je 500 Euro.

Eine weitere Preisträgerin aus Berlin

Einer der 15 so genannten Bundespreise geht ebenfalls nach Berlin und zwar an die Schülerin Anna-Viviane Legat vom Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster in Schmargedorf. Ihre Arbeit trägt den Titel: "Pressefreiheit als Antwort auf politische Krisen. Der Journalist Franz Albert Kramer und der Rheinische Merkur in der Zeit des Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik, 1933-1950".

Viele der knapp 2000 eingereichten Beiträge beschäftigen sich mit der Einführung des Frauenwahlrechts, den Revolutionen von 1848 und 1918/19, dem Zweiten Weltkrieg und den damit verbundenen Zwangsmigrationen oder mit dem politischen Umbruch 1989, berichtet die Körber-Stiftung. Ausgehend von der historischen Analyse stellten die Teilnehmer auch Bezüge zur Gegenwart her.

„Das Wettbewerbsthema hat unter den Jugendlichen offensichtlich einen Nerv getroffen. Krisen, Umbrüche und Aufbrüche der Vergangenheit haben junge Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet dazu inspiriert, kritisch über ihr aktuelles Lebensumfeld und über das Miteinander in unserer heutigen Gesellschaft nachzudenken“, sagte Gabriele Woidelko, Leiterin des Bereichs Geschichte und Politik der Körber-Stiftung, am Dienstag.

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